Der Inverted Classroom als Forschungsreise

Seitdem ich mit dem Inverted Classroom begonnen habe, begegne ich meinen Studierenden wie ein Ethnologe einem fremden Volk. Das heißt nicht, dass ich mit Student_innen bisher nichts zu tun hatte. Ganz im Gegenteil, ich lehre schon seit Jahren an der Universität Duisburg-Essen, habe hier über 40 Lehrveranstaltungen gegeben und dutzende von Abschlussarbeiten betreut. Die Umkehrung des Hörsaals bringt mich zu einer Frage, die ich vorher nie beantworten konnte: Ich möchte verstehen, wie meine Student_innen lernen. Und dabei merke ich, wie wenig ich darüber eigentlich weiß, wenn ich sie nur zwei Stunden in der Woche sehe. Insofern habe ich für das Projekt die Metapher der Expedition gewählt: Expeditionen erfordern Neugier, Anpassungsfähigkeit und Durchhaltevermögen, sie sind risikobehaftet, aber man lernt viel neues dabei kennen. Das passt gut.

Hier also der stichwortartige Bericht aus der zweiten Woche der Expedition:

  • In der Vorbereitungsphase gab es eine eigentümliche Diskrepanz: Viele Leute hatten die Lernmaterialien angeklickt (Texte, Übungen, ein Video), aber nur eine Minderheit hat die Fragen auch wirklich beantwortet (weitgehend richtig, erfreulicherweise). Deshalb habe ich in der heutigen Vorlesung nochmal betont, dass die Übungsaufgaben ein wichtiger Feedback-Mechanismus sind, die ernstgenommen werden sollten. Ob das was fruchtet? Nächste Woche wieder einschalten!
  • Ich habe heute beide Beamer im Saal benutzt. Auf dem einen hatte ich meine Folien, der andere war nur für unser Abstimmungssystem PINGO da. Damit ersparte ich mir das ständige Hin- und Herschalten. Generell lief der Einsatz von PINGO wesentlich leichter als beim ersten Mal, weil ich jetzt schon etwas Erfahrung hatte, was damit geht und was nicht.
  • Mein Zeitmanagement war nicht optimal. Am Ende haben mir noch 5-10 Minuten gefehlt, um die Ergebnisse der Gruppenarbeiten besser zusammenzufassen und mit der Lehrmeinung zu kontrastieren. Die nächsten Sitzungen müssen deshalb noch etwas „schlanker“ gestaltet werden. 90 Minuten sind schnell rum!
  • Die anwesenden Student_innen haben heute gut mitgemacht. Die Beteiligung an den elektronischen Umfragen, einer Think-Pair-Share-Übung, einer Gruppenarbeit und bei meinen Fragen ins Plenum war sehr gut und konstruktiv.
  • Manche Student_innen haben meine Folien aus dem Vorjahr, als ich die Veranstaltung und noch als traditionelle Vorlesung gehalten habe, und bringen teils Begriffe und Fakten daraus ein. Solange sie das aber korrekt tun, soll mir egal sein, wie und womit sie Dinge lernen.

Nachdem jetzt zwei Einheiten abgeschlossen sind, die sich grundlegend mit Begriffen und Konzepten beschäftigt haben, möchte ich in den nächsten Sitzungen reale Beispiele in meine Arbeitsaufträge einbauen. Bisher waren die Diskussionsfragen und Gruppenarbeiten auf konzeptionelle Fragen ausgerichtet („Mit welchen Mitteln kann ein Akteur im internationalen System Macht ausüben?“), aber das ist recht trocken, nutzt sich ab und ist auch zu anfällig für Missverständnisse. Deshalb möchte ich in der nächsten Präsenzsitzung Rüstungsspiralen und die Überwindbarkeit des Sicherheitsdilemmas an einem Beispiel diskutieren – vielleicht der NATO-Raketenschirm in Osteuropa, der NATO-Doppelbeschluss oder die gute alte Kuba-Krise…

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