Was bedeutet Forschendes Lernen: Begriff, Einsatzmöglichkeiten und Wirkung?

Ein Gastbeitrag von Wolfgang Deicke (bologna.lab der Humboldt-Universität zu Berlin).

Die Frage, was ‚Forschendes Lernen’ ist und wie es in der Politikwissenschaft am besten eingesetzt werden kann, lässt sich am besten über eine schrittweise Annäherung klären. In Deutschland kann die Diskussion um das Forschende Lernen auf ein Papier der Bundesassistentenkonferenz (BAK, 1970) zurückgeführt werden. Damals ging es – im Kontext einer massiven Erweiterung des Hochschulsektors – vorrangig darum, allen Studierenden die aktive Teilnahme an und Erfahrung von ‚Forschung’ im Studium zu erhalten bzw. zu ermöglichen. Vierzig Jahre und eine weitere Million Studienplätze später erfreut sich das ‚Forschende Lernen’ im Zusammenhang der Bologna-Reform und der Diskussion um die Verschulung des Hochschulstudiums als Lehr-Lernkonzept erneut eines großen Interesses – und das obwohl (oder vielleicht gerade weil?) es keine verbindliche Einigung über die Definition und Umsetzung des Forschenden Lernen und nur wenige Erkenntnisse zu seiner Wirksamkeit gibt.

Folgt man Ludwig Huber (2014) – ehemaliges BAK-Mitglied und Mitinitiator der deutschen Diskussion um Forschendes Lernen – ist es für das Forschende Lernen essentiell, dass die Studierenden so eigenständig wie möglich einen gesamten Forschungszyklus durchlaufen und an wesentlichen Phasen des Forschungszyklus (Findung der Fragestellung, Entwicklung des Forschungsdesigns, Erhebung und Auswertung der Daten, Aufbereitung und Präsentation der Ergebnisse, Reflexion) aktiv beteiligt sind. Weiter sollen sie sich als Teil einer wissenschaftlichen Gemeinschaft erleben und im Rahmen der Forschung Ergebnisse erzielen, die für Dritte von Interesse sind (2014: 25). Aufbauend auf dieser Definition versucht Huber anschließend, das Forschende Lernen als Konzept sprachlich von anderen, verwandten Termini – wie z.B. forschungsbasierter Lehre, forschungsbezogener Lehre und forschungsorientierter Lehre abzugrenzen (s. Huber, 2014).

Im bologna.lab sind wir auf einem anderen Weg zu ähnlichen Abgrenzungen gekommen. Im Rahmen einer Curriculumsanalyse an der Humboldt-Universität haben wir – aufbauend auf Healey und Jenkins (2005) – versucht zu erfassen, wie sich Forschung und Lehre in der Praxis verbinden lassen (Rueß, Gess und Deicke, 2016).

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Die x-Achse der Matrix (Abb. 1) erfasst hierbei den Grad der Aktivität der Studierenden, die y-Achse den wesentlichen Fokus der jeweiligen Lehrveranstaltung. In der unteren Zeile dieser Matrix wären demnach zum Beispiel Vorlesungen zu verorten, in denen den Studierenden Forschungsergebnisse, Methoden oder Prozesse vorrangig durch die Lehrenden vermittelt bekommen. In der zweiten Zeile würden wir interaktivere Formate wie Seminare oder Übungen verorten (insofern sie tatsächlich Raum für studentische Beteiligung und Auseinandersetzung bieten und nicht – wie viele klassische Referate-Seminare – lediglich die Rolle des Wissensvermittlers temporär an eine*n Student*in delegieren). Studentische Forschung im eigentlichen Sinne beginnt für uns in der dritten Zeile – also dort, wo die Studierenden eigenständig aktiv werden. Hier lassen sich nach unserem Verständnis zwei unterschiedliche Typen Forschenden Lernens unterscheiden (Abb. 2):

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Bei dem ersten Typ wird ‚Forschung’ als didaktisches Mittel z.B. zur eigenständigen Erarbeitung von für die Studierenden neuem Fachwissen oder der vertieften Auseinandersetzung mit einer bestimmten Methode eingesetzt. Eigentliches Ziel dieser Veranstaltungen sind jedoch das erworbene Fachwissen bzw. die methodischen Fähigkeiten und Kenntnisse. Beim zweiten Typ ist – entsprechend der Huber’schen Definition – die Forschung Selbstzweck: Hier geht es primär um die Beantwortung einer Forschungsfrage und die Erfahrung des Forschungsprozesses mit dem Ziel, Forschen zu lernen. Für Lehrende ist dies ein feiner, aber entscheidender Unterschied: Veranstaltungen vom Typ 1 sind relativ gut planbar (und auch bewertbar), weil den Lehrenden der Gegenstand der Forschung (Wissen, Methoden) und damit auch die möglichen Ergebnisse bereits bekannt sein können und nur für die Studierenden subjektiv ‚neu’ sind (s. auch Reiber, 2007). Typ 2 hingegen ist – wie die eigene Forschung auch – nur bedingt plan- und steuerbar: Hier geht es primär um die Beantwortung einer selbst (mit)entwickelten Forschungsfrage, deren Antwort im Vorfeld eben noch nicht bekannt ist. Im Fall des Gelingens entsteht hier ein erster wissenschaftlicher Beitrag zum eigenen Fach, im Fall des Nicht-Gelingens erste Erfahrungen um die Komplexität und Unwägbarkeit von Forschung.

In den Politik- und Sozialwissenschaften fallen – mit jeweils mehr oder weniger großen empirischen Anteilen – formal oftmals bereits fortgeschrittene Hausarbeiten oder die Bachelorarbeit in studentische Forschung vom Typ 1: Hier erschließen sich Studierende eigenständig unter Anleitung/Begleitung ihrer Betreuer*innen für sie neues Wissen und durchlaufen dabei wichtige Phasen des Forschungskreislaufes. Spätestens mit der Abschlussarbeit im Master sollte dann der Übergang zum Forschenden Lernen im Sinne Ludwig Hubers stattfinden: Hier durchlaufen die Studierenden in der Regel eigenständig einen gesamten Forschungskreislauf und können/müssen eine selbst entwickelte Fragestellung beantworten. Forschendes Lernen als didaktisches Format soll und will jedoch mehr sein als nur die Vorbereitung der Studierenden auf ein Leben in der Humboldt’schen ‚Freiheit und Einsamkeit von Forschung’: Es soll ein sozialer Prozess sein, in dem sich die Studierenden aktiv als Teil einer wissenschaftlichen Gemeinschaft erfahren und reflektieren können, ein Prozess in dem sie sich gemeinsam Wissen erarbeiten, Forschung gemeinsam planen und durchführen und gemeinsam Verantwortung für die Sicherung, Aufbereitung und Verwendung der Ergebnisse übernehmen. Die Betonung liegt hier auf dem Gemeinsamen: Werden Haus- und Abschlussarbeiten in der Regel in Einsamkeit und viel zu häufig nur für die Schublade der Prüfer*innen produziert, geht es beim Forschenden Lernen darum, den Prozess der gemeinsamen wissenschaftlichen Wissensproduktion in den Mittelpunkt zu stellen und erfahrbar zu machen. Entsprechend liegt die größte Herausforderung für Lehrende im Forschenden Lernen darin, aus der tradierten Rolle der Wissensvermittlerin und des Prüfers herauszutreten und statt dessen zum Moderator bzw. zur Begleiterin eines gemeinsamen Lern- und Forschungsprozesses der Studierenden zu werden bzw. sie an diesem möglichst gleichberechtigt teilhaben zu lassen. Als etablierte organisatorische Form entsprechen diesem Anspruch am ehesten Projektseminare und gut geführte Kolloquien, als Arbeits- und Organisationsmodel am ehesten Forschungsgruppen.

Damit wird bereits deutlich, dass Forschendes Lernen vom Typ 2 ‚Forschen’ als didaktisches Format sowohl für Studierende wie für Lehrende ziemlich anspruchs- und voraussetzungsvoll und für Hochschulen ressourcenintensiv ist. Diese Einsicht darf unserer Meinung nach jedoch nicht dazu missbraucht werden, Forschendes Lernen vom Typ 2 bis zur Masterarbeit ‚aufzuschieben’ weil es „vorher einfach nicht geht“. Ein gut gestricktes, forschungsorientiertes Curriculum sollte die Studierenden so früh wie möglich mit Forschung in Berührung bringen und ihnen Gelegenheit zur aktiven Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, Methoden und Prozessen bieten. Dabei hilft es ungemein, wenn nicht jede*r Lehrende das Gefühl hat, alle Aspekte von Forschung in jeder eigenen Lehrveranstaltung selbst abdecken zu müssen. Der Druck auf Lehrende und Studierende kann erheblich gemindert werden, wenn man die Huber’sche Forderung, dass alle Studierenden mindestens einmal in ihrem Studium einen gesamten Forschungsprozess durchlaufen sollten, zeitlich etwas entzerrt und die einzelnen Phasen und Aspekte des Forschungszyklus sinnvoll über verschiedene Module und Lehrveranstaltungen verteilt. Unserer Erfahrung nach kann die Klassifizierungsmatrix (Abb. 1) hier als sinnvolles Instrument zur Planung der eigenen Veranstaltungen und der Absprache mit anderen, am gleichen Modul oder Studiengang beteiligten Kolleg*innen dienen.

Bleibt die Frage, ob sich der Aufwand lohnt. Basierend meiner eigenen Lehrerfahrung und auf den positiven Rückmeldungen der Studierenden und Lehrenden zum Q-Programm ist meine Antwort ein klares ‚Ja’. Als Empiriker bin ich etwas zurückhaltender: Gesicherte Erkenntnisse zu den Wirkungen des Forschenden Lernens gibt es bisher nur wenige. In der Beforschung unserer eigenen Angebote im Q-Programm haben wir 2012-13 in zwei Durchgängen versucht, die Wirkungen der Teilnahme am Q-Programm auf das Forschungsinteresse und die forschungsbezogene Selbstwirksamkeit der Studierenden zu erheben. Über das Programm in seiner Breite konnten wir kaum Veränderungen feststellen – was zum einen an der sehr unterschiedlichen Umsetzung der einzelnen Veranstaltungen gelegen haben könnte (nicht alles, was hier anfangs lief, war Forschendes Lernen von Typ 1 oder 2), zum anderen ein Effekt von Selbstselektion gewesen sein könnte: Veranstaltungen des Q-Programms werden im Wesentlichen im überfachlichen Wahlbereich angeboten (d.h. die Teilnehmer*innen könnten z.B. beim Einstieg in das Q-Programm bereits ein hohes intrinsisches Forschungsinteresse ‚mitgebracht’ haben). Was wir jedoch beobachten konnten war ein deutlicher Zuwachs in Forschungsinteresse und Vertrauen in die eigene Forschungskompetenz in den Veranstaltungen, in denen die Studierenden Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit aktueller Forschungsliteratur, der Entwicklung von Forschungsfragen und –designs erlebten (Deicke, Gess und Rueß, 2014).

Aufbauend auf diesen Ergebnissen untersuchen wir im Rahmen des Verbundprojekts ForschenLernen zur Zeit in einem etwas aufwendigeren Design an 10 deutschen Hochschulen die Wirkung von Forschendem Lernen in den Sozialwissenschaften mit Blick sowohl auf die kognitiven wie auch auf die affektiv-motivationalen Facetten sozialwissenschaftlicher Forschungskompetenz – erste Ergebnisse hierzu werden 2017/18 vorliegen. Mit leicht anderem Fokus untersucht das Verbundprojekt FideS derzeit die Möglichkeiten zum Einsatz von studentischen Forschungsprojekten in der Studieneingangsphase. Aufbauend auf amerikanischen Studien ist hier die Fragestellung, ob Forschendes Lernen zur Erhöhung der Studienmotivation und der Identifikation mit dem eigenen Fach und der Hochschule beitragen und somit ein wirksames Mittel gegen hohe Studienabbruchquoten darstellen kann. Auch hier werden erste Ergebnisse mit Abschluss des Projekts 2017/18 erwartet.

Abschliessend feststellen, dass das Forschende Lernen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht das Wundermittel ist, mit dem sich alle ‚Bologna’-Probleme über Nacht lösen lassen. Für Lehrende und Studierende, die sich für die Verbindung von Forschung und Lehre interessieren und bereit sind, auch über den Tellerrand der eigenen Disziplin zu blicken, sind im Umfeld des Qualitätspakts Lehre und etlicher Hochschulinitiativen viele spannende Projekte (AG Forschendes Lernen, https://fl.incom.org/) und Anregungen zum Thema entstanden (Egger et al., 2015; Sonntag et. al., 2016; Mieg und Lehmann, 2016).

Quellen und weiterführende Literatur:

Dies ist ein Beitrag aus unserer Serie zum Forschenden Lernen, die aus dem Workshop zum selben Thema hervorgegangen ist.

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