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Der Inverted Classroom in der Politikwissenschaft

Kürzlich ist der Tagungsband zur vierten „ICM & Beyond“ erschienen, die im Februar 2015 an der Universität Marburg stattgefunden hatte. Zwar waren wir bei der Tagung nicht mit einem Beitrag vertreten, dennoch konnten Caroline Kärger und ich einen Artikel für den von Eva-Marie Großkurth und Jürgen Handke herausgegebenen Sammelband beisteuern.

Dieser Artikel führt die Argumentationslinie genauer aus, die ich bereits bei meinem Vortrag im Webchat dargelegt hatte: Man kann den Inverted Classroom nicht in allen Fächern auf dieselbe Weise anwenden, sondern muss ihn an disziplinäre Kontexte anpassen. Wir identifizieren dabei die folgenden Unterschiede:

Bislang wurde das Inverted Classroom Model (ICM) insbesondere in den MINT-Fächern sowie den Wirtschaftswissenschaften angewendet (s. u.a. die vorigen Tagungsbände der ICM-Konferenzen). Weitere dokumentierte Anwendungen sind unter anderem für die Fächer Medizin (Prober & Heath, 2012), Musik (Keyes, 2013) und Linguistik (Handke, 2013) vorhanden. Diese Fächer teilen einige Gemeinsamkeiten. Erstens sind sie keine typischen Lesedisziplinen wie die Geisteswissenschaften und Teile der Sozialwissenschaften, in denen die eigenständige Lektüre von Texten zur Vorbereitung von Seminar- und Vorlesungssitzungen eine lange Tradition aufweist. Zweitens fokussieren sie stärker auf die Anwendung von Wissen, die Umsetzung praktischer Fertigkeiten und die Lösung klar definierter Aufgaben. Drittens tendieren diese Fächer zumindest im Grundlagenbereich zu einer binären Epistemologie: eine Antwort ist entweder richtig oder falsch, es gibt einen korrekten Lösungsweg und viele falsche Vorgehensweisen. Viertens hat sich in diesen Disziplinen, insbesondere in den Naturwissenschaften, ein disziplinärer Kanon herausgebildet, den alle Studierenden erlernen müssen, der relativ beständig und stabil bleibt (zumindest bis neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Paradigmenwechseln führen) und folglich eine Standardisierung von Kursen für längere Zeit erlaubt.

Im Gegensatz zu diesen Charakteristika gehört die Politikwissenschaft kulturell zu den klassischen Textwissenschaften. Die Politikwissenschaft ist in ihren Themen, Methoden und der Epistemologie pluralistisch. Sie erkennt die prinzipielle Validität unterschiedlicher Positionen an. Ein politikwissenschaftlicher Wissenskanon oder -kern ist schwer festzumachen und fällt vermutlich klein aus. Zudem gibt es Autor_innen, die in einem gemeinsamen core syllabus sogar ein Hindernis zur Ausbildung ortspezifischer inhaltlicher Innovationspotentiale sehen (Albert & Hellmann, 2001, S. 358). Dies führt nicht zu schrankenlosem Relativismus – es gibt durchaus disziplinäre Standards, aber eben nicht einen disziplinären Standard.

Wir argumentieren, dass der Inverted Classroom für die politikwissenschaftliche Lehre eine beachtliche Chance darstellt:

Die Möglichkeit einer Aktivierung der Studierenden, um ihnen den selbstständigen Umgang mit Wissen zu vermitteln und sie in der Aneignung höherwertiger Kompetenzen zu unterstützen, ist für unser Fach von besonderer Bedeutung. Die Interaktivität des Formats und seine Studierendenzentrierung passen zum Selbstverständnis einer Disziplin, die sich u.a. der Ausbildung kritischer demokratischer Bürger_innen verpflichtet sieht.

Für die Anpassung des Inverted Classroom an die Bedürfnisse einer politikwissenschaftlichen Hochschullehre haben wir die folgenden Ratschläge:

In unserem Fall war die zentrale Herausforderung, in der Präsenzsitzung 40 bis 60 Studierenden ein adäquates Feedback auf komplexe Leistungen zu geben. Dies erforderte eine stärkere Strukturierung der Präsenzphase durch die Lehrperson als es in anderen Anwendungen der Fall ist. Dieses Beispiel exemplifiziert aber auch nur die didaktische Grundfrage, wie eine Lehrmethode eingesetzt werden muss, um die gewünschten Lernergebnisse zu ermöglichen.

Beim Einsatz des ICMs in politikwissenschaftlichen Kursen sollte der Fokus in der Regel auf Diskussion und Argumentation anstatt auf Problemlösung liegen. Uns erscheinen daher die folgenden Modifikationen des Konzepts bedenkenswert. Erstens kann die Vorbereitungsphase auch zur Problematisierung und Irritation eingesetzt werden. Studierende haben bereits Einstellungen und Vorwissen zum Thema, welches mobilisiert, aber auch herausgefordert werden kann. Ein konsequentes Just-in-Time-Teaching ist hier unabdingbar. Zweitens sollte ICM mit anderen erprobten Lehrmethoden des Fachs kombiniert werden, z.B. Simulationen, Rollenspiele und Planspiele. In unserem Beispiel haben wir die Studierenden das Gefangenendilemma zur Modellierung von Rüstungswettläufen spielen lassen. Drittens sind Abstimmungssysteme nur bedingt geeignet, um komplexe Diskussionen zusammenzufassen. Technologische Optionen zur Unterstützung von Diskursen wie Back Channels, Etherpads o.ä. können eine zweite Diskussionsebene in der Präsenzphase eröffnen oder die Präsenzphase mit der Vorbereitungsphase verbinden. Viertens haben, ganz im Sinne von Barnetts (2014) Konzept des Scrambled Classroom, kurze Lehrvorträge weiterhin eine Funktion in der Präsenzphase, z.B. zur Einführung von Fallstudien, zur Hervorhebung marginalisierter Positionen sowie zur Zusammenfassung von Diskussionen (was einen sehr potenten Feedback-Mechanismus für das Plenum darstellt).

Eine zentrale Herausforderung für die Zukunft stellt das Teilen von Inhalten, Aufgaben und Materialien dar, was in den MINT-Fächern verbreitet ist und die Eintrittshürde für Erstnutzer_innen des ICMs deutlich verringert. Wenn sich die Nutzergemeinde in der Politikwissenschaft vergrößert, muss sich zeigen, inwiefern hier ein Austausch organisiert werden kann. Zum einen besteht eine grundsätzliche Problematik in der Weitergabe und Nutzung von Lehr-und Lernmaterialien ohne entsprechende Lizensierung (Stichwort Open Educational Resources (OER) und Creative Commons Lizenzen (CC)) bzw. der Klärung von Urheberrechtsfragen. Zum anderen steht uns der Mangel eines klar definierten Wissens- oder Kompetenzkanons (analog zu den in der Physik genutzten concept inventories) entgegen. Weiterhin werden dieselben Inhalte von verschiedenen Lehrenden je nach ihrer theoretischen Perspektive unterschiedlich präsentiert. Diese Pluralität kann aber auch als Ressource genutzt werden, z.B. durch die gezielte Gegenüberstellung von Positionen. Dazu muss sich das ICM als didaktische Methode aber zunächst weiter in den Sozialwissenschaften ausbreiten.

Der Sammelband ist beim Tectum-Verlag erschienen und wird sicher in Kürze in einschlägigen Fachbibliotheken verfügbar sein. Den Volltext unseres Beitrags haben wir auch hier und hier zur Verfügung gestellt.

Erfreulicherweise sind wir nicht die einzigen, die diese Methode in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre einsetzen, auch wenn wir zahlenmäßig noch lange nicht an die MINT-Fächer heranreichen (siehe z.B. diese Beschreibungen eines ähnlichen Projekts). Es dürften aber gerne noch mehr Kolleg_innen hinzukommen, um über den Austausch von Erfahrungen und Lehrmaterialien das Potenzial des Inverted Classroom in der Politikwissenschaft zu erhöhen.

Unser Poster für ICM & Beyond 2016

Ich hatte bereits darüber berichtet, dass wir „virtuell“ an der diesjährigen „ICM and Beyond“-Tagung teilnehmen, die am 23.-24. Februar an der FH St. Pölten stattfindet. Inzwischen ist auch unser Poster fertig, das hier heruntergeladen werden.

Wie schon unser früheres Poster diskutieren wir darauf die Evaluation unserer Vorlesung. Damals hatten wir das Ergebnis beschrieben, dass Studierende sehr unterschiedlich auf das Inverted Classroom-Format reagieren, konnten dafür aber keine Ursachen angeben. Die neue Version gibt dazu näheren Aufschluss: Wir haben mit der Unterstützung von Achim Goerres herausgefunden, dass die Haltung gegenüber dem Inverted Classroom nicht – wie wir zunächst angenommen hatten – auf den zeitlichen Mehraufwand zurückzuführen ist, sondern dass studentische Präferenzen zum Lernkontext die stärkste Erklärungskraft haben. Studierende, die gerne mit ihren Kommiliton_innen zusammenarbeiten und kollaborativ lernen, bevorzugen den Inverted Classroom; Studierende, die sich gerne mit ihren Peers messen, finden ihn weniger gut.

Diese Ergebnisse stellen wir noch genauer in einer aktualisierten Fassung unseres Arbeitspapiers dar, das sich gerade in der letzten Phase der Bearbeitung befindet. Ich werde das Papier demnächst hier und über Academia und Researchgate veröffentlichen, ehe wir es bei einer Fachzeitschrift einreichen.

The Inverted Classroom: A Bibliography

Download the bibliography as a pdf file.

This bibliography is one of the results of a project that used the inverted classroom model (ICM) in an introductory course in international relations. The project, entitled ‘Active Learning in a Large Lecture Course: Using the Inverted Classroom to Teach Political Science’, was funded by a grant from the Stifterverband für die deutsche Wissenschaft (grant no. H120 5228 5008 24723).

As part of the project, we collected a large number of publications detailing the ICM and related approaches as a pedagogical technique from various disciplinary perspectives. Upon completion of the project, we want to make this collection accessible to other researchers and practitioners. It should be noted, though, that this bibliography is necessarily incomplete. The inverted classroom is a hot topic in higher education. New publications continue to appear and we are sure to have missed many older ones as well. Nevertheless, the bibliography should provide reading material to first-time users and more experienced teachers alike.

The bibliography contains 119 sources, both in English and German. Texts without a URL can be quickly found using the bibliographic information and a common search engine. At present, we do not plan to update the bibliography in the future. While this would be useful, particularly given the burgeoning interest in the topic and the growing stream of publications, we no longer have the resources to curate the bibliography.

Creative Commons Lizenzvertrag
We release this bibliography under a Creative Commons license (Attribution – Non-Commercial – ShareAlike) 4.0 International License.

Inverted Classroom and Beyond 2016

Am 23.-24. Februar 2016 findet an der Fachhochschule St. Pölten die fünfte Tagung „ICM and Beyond“ statt. Diese jährliche Veranstaltung versammelt die Gemeinde der Nutzer_innen des Inverted Classroom Models (ICM) an Schulen und Hochschulen. Nachdem die Tagung, initiiert von Jürgen Handke, bisher stets an der Universität Marburg stattfand, soll sie künftig zwischen Marburg und St. Pölten alternieren, wo die Hochschulleitung eine umfassende und ambitionierte Strategie zur Nutzung des ICM verfolgt.

Ich war im Vorjahr als Zuhörer bei der Marburger Tagung und war von dieser Veranstaltung sehr angetan. Zum Einen erhielt ich dort eine Vielzahl von Anregungen und konnte meine Ideen über Lehre mit dem Inverted Classroom mit Gleichgesinnten diskutieren. Zum Anderen war es auch schön, die vielen Bekannten, die sich auf Twitter um Hashtags wie #icmchatde oder #flipmich versammeln, einmal persönlich kennenzulernen.

Daher hatte ich mir die Tagung in St. Pölten fest eingeplant, um mich wieder durch den Austausch in der Gemeinschaft inspirieren zu lassen. Leider findet in derselben Woche auf die erste Tagung der DVPW-Themengruppe Hochschullehre statt (zu der ich bald weitere Informationen veröffentlichen werde), bei der ich als einer der Sprecher natürlich nicht fehlen darf.

So ganz bleibe ich den Kolleg_innen in St. Pölten aber nicht erspart, denn wenn ich schon nicht persönlich da sein kann, möchte ich zumindest indirekt einige Beiträge liefern. Dazu gehört ein Poster für die Ausstellung, auf dem ich die Evaluationsergebnisse unserer Vorlesung genauer unter die Lupe nehme (der Artikel dazu ist gerade gemeinsam mit Caroline Kärger und Achim Goerres in Arbeit). Außerdem habe ich für das Blog des SKILL-Zentrums der FH St. Pölten, das die Veranstaltung organisiert, einen kurzen Beitrag geschrieben, der um ein Videointerview ergänzt wurde, das Christian Freisleiben-Teutscher mit mir gehalten hat. Wer also meinen ersten Auftritt bei Youtube sehen will, sei auf den Blogeintrag verwiesen oder kann es sich gleich hier ansehen.

Das Poster lade ich hier ebenfalls hoch, sobald die neue Version fertig ist.

Ich wünsche allen Teilnehmer_innen der Tagung viel Spaß und interessante Diskussionen. Ich werde das Geschehen aus der Ferne über Twitter (Hashtag #icmbeyond16) verfolgen.

Aktives Lernen als Mittel zur Demokratieerziehung in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre

In meinem Habilitationsvortrag habe ich die These diskutiert, dass Demokratiekompetenz – seit jeher ein Ziel der deutschen Politikwissenschaft – am besten durch aktives Lernen gefördert werden kann. (Ich bin mir der Ironie durchaus bewusst, dass ich einen Vortrag über aktives Lernen gehalten habe. Unter normalen Umständen hätte ich dieses Format lieber interaktiver gestaltet, während eines Habilitationsverfahrens schien mir das aber nicht angebracht.)

Da mich mehrere KollegInnen danach gefragt haben und es keine Aufzeichnung des Vortrags gibt, möchte ich das leicht editierte Manuskript meines Vortrags hier veröffentlichen. Über Kommentare und Kritik freue ich mich sehr.

Einleitung

Warum habe ich dies als Thema vorgeschlagen? Dazu gibt es drei persönliche Erwägungen sowie eine realweltliche Komponente:

  1. Erstens eine didaktische Erwägung: Ich habe mich im Rahmen meines Inverted Classroom-Projekts eingehend mit der Lehr-Lern-Forschung auseinandergesetzt. Deren Erkenntnisse haben mich zu einem leidenschaftlichen Verteidiger aktiver Lehr-Lernformen gemacht. Die Forschung bestätigte meine aus langer Praxis gewonnene Unzufriedenheit mit vortragsbasierter Lehre (Vorlesung, Referate).
  2. Zweitens eine demokratiepolitische Erwägung: Ich bin mit dem intellektuellen Niveau politischer Debatten in unserer Demokratie nicht zufrieden und möchte dazu beitragen, dass sich dies verbessert. Der Gedanke der Aufklärung, dass Menschen durch Zugang zu Wissen auch zu tugendhafteren Wesen werden, ist naiv. Dennoch glaube ich an die Kraft des überlegenen Arguments.
  3. Drittens eine biographische Erwägung: Ich wünsche mir eine ausschweifendere Diskussionskultur unter und mit Studierenden. Aus meiner eigenen Studienzeit habe ich diese als lebendiger in Erinnerung. Ich bin sicher der letzte Dozent, der die alten Studiengänge überhöhen würde und ich kann dem Bologna-Prozess viel positives abgewinnen, aber mir ist in dem Zuge zu viel Konformität und Pragmatismus an die Studierenden vermittelt worden. Zur Demokratie gehört auch Streiten, auch mit Gleichgesinnten, und ich wünschte wir würden das öfter tun.

In realweltlicher Hinsicht mache ich mir Sorgen um die Demokratie in der Bundesrepublik, auch wenn wir inzwischen auf über 65 Jahre Geschichte zurückblicken können. Im Zuge der Wirtschaftskrise haben in vielen krisengeschüttelten Ländern wie Griechenland, Ungarn oder Italien antidemokratische oder populistische Parteien starken Zulauf erhalten. In Deutschland erleben wir das im Kleinen mit der AfD. In vielen westlichen Demokratien nimmt die Wahlbeteiligung seit langem ab, politische Partizipation in Parteien lässt nach und ein antipolitischer Gestus – wie von Beppe Grillo oder Donald Trump – erhält Zuspruch.

Aus dem Scheitern der Weimarer Republik haben wir die Lehre gezogen, dass Demokratien ohne Demokrat_innen nicht funktionieren. Wo aber kommen solche Demokrat_innen her? Klassisch strebt die politische Bildung danach, Demokrat_innen zu erzeugen, indem man den Bürger_innen bestimmte Haltungen vermittelt und diese an Werte wie Emanzipation, Mündigkeit und Freiheit bindet. Eine neuere Strömung in der politischen Bildung bedient sich des neuen Mainstreams in der Didaktik und diskutiert dies als Frage des Kompetenzerwerbs. Das Ziel ist nicht, überzeugte Demokrat_innen zu produzieren, sondern den Lernenden Handlungskompetenzen in der Demokratie zu vermitteln. Indem man Menschen zur Demokratie befähigt, sollen sie demokratiefeindlichen Positionen kritischer gegenüberstehen und die Demokratie insgesamt durch die Partizipation ihrer Bürger gestärkt werden.

Ich möchte in diesem Vortrag argumentieren, dass die politikwissenschaftliche Hochschullehre eine wichtige Rolle für die Demokratiefähigkeit unserer Studierenden spielen kann und dass wir diesen traditionsreichen Auftrag nicht vergessen sollten, und dass die dafür notwendige Demokratiekompetenz nicht durch Lehrvorträge und Frontaldidaktik vermittelt werden kann, sondern durch aktives Lernen.

Das erste Argument beruht auf der Annahme, dass Demokratiefähigkeit etwas ist, was auch Studierende – typischerweise junge Erwachsene – noch lernen können. Die Sozialisationsforschung sagt uns zwar, dass frühkindliche und schulische Prägungen wichtig sind, räumt aber auch die Möglichkeit späterer Weiterentwicklung ein. Ich möchte das Entwicklungspotential von Studierenden anhand des Entwicklungsmodells kognitiver und ethischer Urteilsfähigkeit von William Perry illustrieren, welches den Umgang mit Wissen und Autorität als zentrale Differenzierungsmerkmale verwendet.

Ich behaupte, dass die politikwissenschaftliche Hochschullehre in diesem Entwicklungsprozess eine wichtige Rolle zu spielen hat. Das bedeutet, dass wir in allem – berechtigten – Nachdenken über employability einen Gründungsauftrag der bundesdeutschen Politikwissenschaft vergessen haben, nämlich die Demokratieerziehung. Angesichts der eingangs geschilderten Gefahren für die Demokratie halte ich diese Aufgabe weiterhin für wichtig.

Das zweite Argument lautet, dass wir Demokratiekompetenz am effektivsten durch aktivierende Lernformen vermitteln können. Dazu werde ich zunächst ein Modell der Demokratiekompetenz vorstellen. Danach ziehe ich die Lehr-Lernforschung zu aktivem Lernen heran, um ihre Relevanz für die zentralen Komponenten von Demokratiekompetenz herauszustellen.

 

Theorie

Heutige Demokratien müssen sehr pluralistische und diverse Gesellschaften steuern. Gleichzeitig führen Globalisierung und Technisierung zur Entgrenzung und Beschleunigung von sozialer Interaktion. In der Interaktion prallen unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, die nicht durch gemeinsame Referenzpunkte vereint werden können; Symbole und Diskurse sind mehrdeutig. Für viele Bürger ist der tagtägliche Umgang mit dieser Komplexität kognitiv anstrengend; deshalb wünscht sich so mancher eine imaginierte Vergangenheit zurück, in der alles einfach und geordnet vonstatten ging. Die Fähigkeit zum Umgang mit dieser Komplexität ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für den Erwerb von Demokratiekompetenz.

Der Entwicklungspsychologie William Perry hat ein deskriptives Schema entwickelt, dass die typischen Schritte kognitiver und ethischer Entwicklung von Studierenden beschreibt. Es ähnelt anderen Stadienmodellen wie denen von Piaget oder Kohlberg, ist aber für diese Diskussion hilfreicher, weil es auf den Entwicklungsprozess von Teenagern und Erwachsenen konzentriert ist.

Das Schema unterstreicht die Notwendigkeit einer konstruktivistischen Didaktik, bei der das Lernen aus der Konstruktion von Sinnzusammenhängen durch die Lernenden besteht. Die zentrale Frage lautet jeweils, was die Person über Wissen und Wissenserwerb denkt, und welche Rolle Autoritäten (Lehrer, Eltern etc.) dabei spielen. Im konstruktivistischen Sinne werden Studierende während ihres Fortschritts immer mehr bereit und befähigt dazu, ihre eigene Urteilsfähigkeit einzusetzen.

Das Schema umfasst neun Schritte. Es wird von einem linearen Fortschritt ausgegangen (Stufen können nicht übersprungen werden), aber Rückschritte und Stagnation sind ebenfalls möglich. Studierende beginnen ihr Studium in unterschiedlichen Stufen, bei den meisten ist im Studienverlauf ein Fortschritt zu beobachten. Es ist möglich, dass Studierende in unterschiedlichen Wissensfeldern unterschiedliche Stadien einnehmen. Das Schema ist nicht dafür gedacht, Entwicklungsfortschritte in einzelnen Lehrveranstaltungen nachzuzeichnen, sondern beschreibt längerfristige, sehr viel fundamentalere Entwicklungen des Denkens über die gesamte Bildungsbiografie hinweg.

Finster 1989 Schaubild

Quelle: Finster 1989: 659.

Das Schema besteht aus Positionen (Punkte) und Transitionen (der Übergang zwischen Positionen). Perry schildert Positionen und Transitionen anhand typischer Äußerungen von Studierenden, die in der folgenden Tabelle zusammengefasst sind (Perry 1981: 79):

Dualismus 1 Position: Die Autoritäten kennen die richtigen Antworten und ich kann sie von ihnen lernen.
Transition: Aber es gibt auch andere Ansichten. Manche Autoritäten sind nicht derselben Meinung.
Modifizierter Dualismus 2 Position: Die Wahren Autoritäten haben die richtigen Antworten, die anderen sind Falsche Autoritäten.
Transition: Aber selbst die Wahren Autoritäten gestehen ein, dass sie noch nicht alle richtigen Antworten kennen.
3 Position: Gewisse Unsicherheiten und unterschiedliche Ansichten sind zeitweise normal, selbst für Wahre Autoritäten. Sie arbeiten daran, um die Wahrheit zu entdecken.
Transition: Aber es gibt so viele Dinge, zu denen die Wahren Autoritäten noch keine Antworten kennen. Und sie werden noch sehr lange brauchen, um diese zu entdecken.
Entdeckung des Relativismus 4a Position: Wenn die Autoritäten keine Antworten haben, dann hat jeder ein Recht auf seine eigene Meinung. Keine Antwort ist falsch.
Transition 1: Aber meine Freunde fordern mich auf, meine Meinung mit Fakten und Argumenten zu begründen.

Transition 2: Aber wie können die Autoritäten mir dann eine Note geben? Auf welcher Grundlage tun sie dies?

4b Position: In manchen Kursen wollen die Autoritäten keine richtigen Antworten. Sie möchten, dass wir über Probleme auf eine bestimmte Weise nachdenken und unsere Meinung mit Fakten begründen. Dafür werden wir bewertet.
Transition: Aber dieses Vorgehen funktioniert auch in anderen Kursen und auch außerhalb der Hochschule.
5 Position: Dann muss alles Denken so sein, auch für die Autoritäten. Alles ist relativ, aber nicht gleichermaßen gültig. Man muss verstehen, wie der Kontext funktioniert. Theorien sind keine Wahrheit, sondern Metaphern zur Interpretation von Daten. Man muss über sein eigenes Denken nachdenken.
Transition: Aber wenn alles relativ ist, ist es mein eigenes Denken auch. Woher weiß ich, dass ich die richtige Wahl treffe?
Entscheidungen im Relativismus 6 Position: Ich verstehe, dass ich in einer unsicheren Welt eigene intellektuelle Entscheidungen treffen muss, ohne dass mir jemand sagen kann, dass diese wahr sind.
Transition: Sobald ich eine große Sache entschieden habe (z.B. die Wahl meines Berufsfeldes, meines Glaubens, meiner Beziehungen), wird alles klarer.
7 Position: Ich habe meine erste Entscheidung getroffen.
Transition: Aber damit hat sich die Unsicherheit nicht gelegt.
8 Position: Ich habe mehrere Entscheidungen getroffen. Ich muss diese jetzt ausbalancieren – wie viele, wie tiefgehend, wie sicher oder vorsichtig?
Transition: Aber manche meiner Entscheidungen sind widersprüchlich. Ich kann die Dilemmata des Lebens nicht logisch ordnen.
9 Position: So ist das Leben. Ich muss für meine Entscheidungen einstehen ohne sie zu verabsolutieren, für meine Werte kämpfen aber andere respektieren, an meine Überzeugungen glauben aber bereit sein dazuzulernen. Meine Entwicklung wird nie an einem Endpunkt ankommen.

 

Die Relevanz dieses Entwicklungsschemas für die Demokratiekompetenz ist offensichtlich, z.B. kann der Urteilende Relativist (Phase 6+) ganz anders mit anderen Meinungen umgehen als der Dualist (Phase 2), er erkennt die Validität anderer Sichtweisen an und toleriert sie, soweit sie auf einer nachvollziehbaren Logik beruhen.

Fortschritt besteht hier darin, seine eigenen Positionen intersubjektiv artikulieren zu können, selbstreflexiv mit seinen Haltungen umzugehen und sich kritisch, aber respektvoll mit anderen Positionen auseinanderzusetzen. Dies sind ganz entscheidende Fähigkeiten für das Leben in einer Demokratie.

 

Demokratiekompetenz

Es gibt eine Reihe von Ansätzen zur Operationalisierung von Demokratiekompetenz. Ich stelle hier nur den zentralen Ansatz von Michael May (2007, 2010) vor. May entwirft ein Konzept von Demokratiefähigkeit, das sich aus der Vorstellung von Demokratie als rekursivem Prozess des Problemlösens i.S. von Lasswell ableitet. Daraus leitet er vier Kernkompetenzen ab:

  1. Sozialwissenschaftliche Analysekompetenz: „[die Fähigkeit] die Regeln und Codes des jeweiligen Funktionsbereiches (z.B. Politik, Wirtschaft) kognitiv angemessen zu repräsentieren und konkrete Sachverhalte des Funktionsbereiches unter Rückgriff auf diese Regeln zu erklären“ (May 2010: 160). Hier geht es darum, Ziel-Mittel-Rationalitäten einzuschätzen.
  2. Moralische Urteilskompetenz: „Hiermit ist die Fähigkeit angesprochen, unter Rückgriff auf Konzepte des Guten oder Gerechten wertende Aussagen zu entwickeln“ (May 2010: 160). Hier geht es um die moralische Angemessenheit von Zielen und Mitteln demokratischer Politik.
    à Analyse- und Urteilskompetenz ergeben zusammen politische Urteilskompetenz, d.h. die Fähigkeit Entscheidungen zu Sachverhalten zu treffen, welche aus analytischen und moralischen Positionen bestehen.
  3. Kompetenz zur Vermittlung konfligierender Positionen: Gemeint ist damit die argumentative Auseinandersetzung mit gegenüberstehenden Positionen, um den Konflikt durch Konsens, Kompromiss oder autoritative Entscheidung über demokratische Institutionen zu vermitteln.
  4. Partizipationskompetenz: „Hierbei geht es um die Bereitschaft, die ersten drei Kompetenzen in das politische Geschehen einzubringen. Dies kann mit jeweils unterschiedlicher Reichweite und Intensität erfolgen (reflektierter Zuschauer/Wahlbürger, interventionsfähiger Bürger, Aktivbürger)“ (May 2010: 161).

Kurz gesagt stellt sich May demokratiefähige Bürger_innen so vor, dass sie politische Prozesse verstehen und analytisch wie moralisch bewerten können, mit unterschiedlichen Positionen respektvoll und klar umgehen, und sich aktiv in den Alltagsbetrieb der Demokratie einbringen. Mays Kompetenzdimensionen lassen sich gut in Perrys Schema umsetzen. Für Mays Kompetenz zur Vermittlung konfligierender Positionen muss sich ein Bürger eine eigene Meinung bilden, mit dieser kritisch und selbstreflexiv umgehen, offen für andere Meinungen und bereit zum demokratischen Diskurs sein. Unterhalb von Perrys Stufe 6 ist das kaum zu machen.

Ich könnte noch weitere Definitionen von Demokratiekompetenz hervorholen, die sich aber von dieser nicht radikal unterscheiden würden. Die einzige Ausnahme wäre, dass manche Konzepte, die sich stärker an klassischen Vorstellungen von Demokratiefähigkeit oder Demokratie-Lernen orientieren (z.B. Himmelmann) pro-demokratische Werte und Einstellungen (z.B. Achtung der Menschenwürde, Anerkennung der Gleichheit aller Menschen) oder andere affektive Lernziele berücksichtigen. In den kognitiven und instrumentellen Fertigkeiten weisen die verschiedenen Konzepte von Demokratiekompetenz aber eine deutliche Familienähnlichkeit miteinander auf.

In der Diskussion im Demokratiekompetenz taucht die Hochschullehre leider kaum auf, lediglich die schulische und außerschulische Politische Bildung. Da wir aber dank Perry u.a. wissen, dass die Sozialisation nicht mit dem Schulabschluss aufhört, können wir daraus ableiten, dass auch die Hochschullehre eine wichtige Rolle in der Vermittlung von Demokratiekompetenz zu spielen hat. Wenn die deutsche Politikwissenschaft diesen Auftrag annimmt, dann ist die Frage, mit welchen Mitteln dies am effektivsten erreicht werden kann.

 

Aktives Lernen

Der Kern meines Arguments lautet, dass man Demokratiekompetenz nicht durch Faktenwissen erwirbt, sondern nur durch konkrete Handlungsfähigkeit. Diese entsteht nicht durch die passive Rezeption von Wissen, sondern – im konstruktivistischen Sinne – durch die eigenständige Erschließung und eigenständige Sinnstiftung. Dies erfordert die Möglichkeit zum aktiven Lernen.

Aktives Lernen ist überraschend schwer zu definieren – einen Konsens in der Literatur gibt es nicht. „The core elements of active learning are student activity and engagement in the learning process“ (Prince 2004: 223). Dieses Zitat spricht die wesentlichen Elemente von aktivem Lernen an: eine Beteiligung der Studierenden an ihrem eigenen Lernprozess, der in Form von Aktivitäten stattfindet.

Um die Besonderheit aktiven Lernens hervorzuheben, kontrastiere ich es idealtypisch mit dem traditionellen Lehrvortrag. Mir ist klar, dass beides in der Praxis nicht in Reinform zu finden ist. In drei Aspekten wird dieser Unterschied deutlich.

Aspekt Aktives Lernen Lehrvortrag
Rolle der Lernenden Lernende erschaffen Wissen durch die Hilfe der Lehrenden Lernende empfangen Wissen von Lehrenden
Form Aktivitäten im Kurskontext unter Begleitung der Lehrenden Kontinuierliche Vorstellung des Materials durch Lehrende; Studierende machen Notizen und stellen unaufgeforderte Fragen
Kompetenzziele Anspruchsvolle kognitive Kompetenzen, z.B. Anwenden, Analysieren, Synthetisieren, Evaluieren Maximale Zahl von Informationen verstehen und wiedergeben

Aktives Lernen kann in vielen Formen stattfinden: Einzel-, Paar- oder Gruppenarbeiten, Nutzung von elektronischen Abstimmungssystemen mit/ohne Peer Instruction, Arbeitsblätter, Arbeit mit Tutoren, Werkstattarbeit, Rollenspiele und Simulationen, Anwendungsübungen, Problem-based learning (vgl. z.B. Bromley 2013, Bonwell/Eison 1991). Zum aktiven Lernen gehört nicht nur das Tun, sondern auch das Reflektieren. Letzteres ist theoretisch auch bei Lehrvorträgen nicht ausgeschlossen, dort aber nur schwer umzusetzen, weil dafür oft nicht die nötige Zeit bleibt.

In einer aufsehenerregenden Metastudie haben Freeman et al. (2014) 225 Studien zur Wirksamkeit aktiven Lernens ausgewertet. Sie fanden einen  signifikant positiven Effekt von aktiven Lernmethoden auf Prüfungsergebnisse; auch die Häufigkeit von Nichtbestehen wurde dadurch signifikant verringert. Dieses Ergebnis wird noch von einer Reihe weiterer Studien bestätigt. Wirksamkeit wird i.d.R. über den Lernzuwachs gemessen, den Studierende im Durchschnitt erreichen, entweder im Vergleich zwischen Experimental- und Kontrollgruppe oder durch Vorher-/Nachher-Messung.

Allerdings warnt Prince (2004) zurecht, dass der Effekt auf höhere Lernziele schwierig zu messen ist, weil diese Kompetenzen generell schwierig valide zu messen sind. Daher beschränken sich die meisten Studien darauf, niedere Kompetenzen wie Faktenwissen zu testen oder Prüfungsergebnisse als Proxy für den Lernerfolg heranzuziehen. Eine teilweise Ausnahme sind Concept Inventories, die anspruchsvoller sind, aber i.d.R. besonders analytische, Anwendungs- und Transferkompetenzen betonen.

Eine Metaanalyse der Wirksamkeit von aktivem Lernen, die nach Kompetenzebenen unterscheidet, scheint es noch nicht zu geben. Allerdings zeichnen mehrere Einzelstudien ein einheitliches Bild: höherwertige Kompetenzen werden durch aktives Lernen besser gefördert (Wilson/Pollock/Hamann 2007, Bonwell/Eison 1991: 2). Dies war eins der Ergebnisse aus einer Studie mit Achim Goerres und Caroline Kärger (2015) über die Lerneffekte des Inverted Classroom in Achims Statistik-Vorlesung: Anspruchsvollere Fragen wurden hier signifikant besser beantwortet als von einer Vergleichskohorte, die zu diesen Themen nicht per Inverted Classroom unterrichtet worden war. Bei einfachen Fragen, die nur auf Wiedergabe von Wissen abzielten, gab es keinen Unterschied. Dieses Bild wiederholt sich auch in anderen Studien: Anspruchsvollere Tests über Concept Inventories oder Essays zeigen i.d.R bessere Ergebnisse für Studierende, die ein Thema durch aktive Methoden gelernt haben. Demgegenüber eignet sich der Lehrvortrag genauso gut zur Memorisierung und Wiedergabe von Information. Eine Reihe von Studien zeigt, dass aktives Lernen auch zu höherem studentischem Engagement führt (gemessen z.B. in Zeitaufwand, Motivation und Interesse am Thema) (Prince 2004).

Wie es zu diesen positiven Effekten kommt, ist nicht klar, weil die Mechanismen nur schwer zu beobachten sind. Theoretisch plausible Annahmen wären eine bessere Mobilisierung von Vorwissen, durch Anknüpfung an bestehende Wissensbestände und Überzeugungen sowie eine bessere Motivation, weil die Agency der Lernenden ernstgenommen wird und daraus eine größere Leistungsbereitschaft entsteht. Letztlich zwingen uns auch diese Ergebnisse in Richtung einer konstruktivistischen Theorie des Lernens.

 

Aktives Lernen für Demokratiekompetenz

Es gibt bislang keine Forschung, die sich direkt mit diesem Thema auseinandersetzt. Auch hier gilt Princes Warnung, dass die Dimensionen von Demokratiekompetenz relativ komplex sind. Um meine Argumentation verständlich zu machen, muss ich noch eine Brücke über die klassische Taxonomie kognitiver Kompetenzen nach Bloom bauen.

Die oben erwähnte Forschung zeigt eindrücklich, dass aktives Lernen den Erwerb höherer kognitiver Kompetenzen fördert. Dies ist üblicherweise ausgedrückt in der klassischen Taxonomie von Lernzielen nach Bloom oder einer ihrer Varianten, mit der aufsteigenden Reihenfolge: Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse, Synthese, Evaluation.

Wie passt dies zu den Kompetenzdimensionen nach May?

  1. Sozialwissenschaftliche Analysekompetenz: Anwendung, Analyse, Evaluation
  2. Moralische Urteilskompetenz: Analyse, Evaluation
  3. Kompetenz zur Vermittlung konfligierender Positionen: Synthese, Evaluation
  4. Partizipationskompetenz: passt nicht in Blooms Schema, weil es hier nicht um eine kognitive Fähigkeit geht, sondern um eine „Bereitschaft, die ersten drei Kompetenzen in das politische Geschehen einzubringen“

Die ersten drei Dimensionen benötigen definitiv anspruchsvolle kognitive Kompetenzen. Dafür eignet sich aktives Lernen, soweit man der Forschung glauben kann. Dies kann man auch für die vierte Kompetenz argumentieren, weil aktives Lernen auch Motivation und Engagement im Lernprozess erzeugen. Außerdem demonstrieren einige Studien, dass mittels aktivem Lernen auch Einstellungen und Werthaltungen beeinflusst werden können, insofern scheint dies plausibel.

Ich kann dieses Argument auch nochmal an Perrys Schema zurückbinden. Finster (1991: 753) hat eine gute Übersicht für die Stufen 1-5 von Perrys Schema, welche Rollen dabei Lehrenden, Studierenden und Mitstudierenden zugeschrieben werden und welche intellektuellen Aufgaben (= Kompetenzen) von den Studierenden gefordert werden.

Finster 1991 Tabelle

Quelle: Finster 1991: 753.

An der Zeile „role of the student“ kann man gut Stufen 1-3 (Lehrvortrag) mit 4-5 (aktivierende Methoden) kontrastieren. Stufen 4 und 5 brauchen eine aktive Beteiligung der Studierenden: eigenes Denken, Herausfordern der Lehrenden, eigenständige Bewertung von Informationen und Urteilen. Auf diesen höheren Stufen ändert sich auch die Rolle des Lehrenden und der Peers (insb. auf Stufe 5 sichtbar) – statt einer Orientierung nach der Autorität des Lehrenden auf Stufen 1+2 ist nun jeder eine mögliche Quelle von Lernimpulsen.

 

Zusammenfassung

Ich habe hier argumentiert, dass die politikwissenschaftliche Hochschullehre eine wichtige Rolle in der demokratischen Sozialisation und Demokratiefähigkeit unserer Studierenden spielen kann und dass wir diesen traditionsreichen Auftrag nicht vergessen sollten, sowie dass die dafür notwendige Demokratiekompetenz nicht durch Lehrvorträge und Frontaldidaktik vermittelt werden kann, sondern durch aktives Lernen. Ich halte diese Argumentation für plausibel, auch wenn an manchen Stellen die empirische Evidenz noch nicht vollkommen geklärt ist. Das was wir bisher wissen, zeigt aber in die richtige Richtung.

Ich möchte dies nicht als Manifest verstanden wissen oder wenn, dann nur als mein persönliches. Es geht mir auch nicht darum, eine neue Orthodoxie zu etablieren. Vielmehr möchte ich ein Nachdenken und eine Diskussion anregen, wofür und wie wir Politikwissenschaft lehren.

Dem steht leider an deutschen Hochschulen eine Tradition des Beschweigens entgegen. Über Lehre wird kaum gesprochen, alle haben das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen, und für die Karriere ist die Forschung ohnehin wichtiger. Ich würde hier eine Transformation hin zu einer konstruktiven, kollegial unterstützenden Kultur sehr begrüßen, in der man sich gerne über die Lehre der anderen informiert, austauscht, voneinander lernt.

Dies war eine der Motivationen für die Gründung der Themengruppe Hochschullehre in der DVPW, die ich dieses Jahr initiiert habe – einen Austausch über die Lehre über den Kontext der eigenen Institution hinweg zu ermöglichen. Ironischerweise ist genau dies – die Vermittlung unterschiedlicher Positionen und die Bereitschaft zu Partizipation und Austausch – auch ein integraler Bestandteil von Demokratiekompetenz.

 

Verweise

Bonwell, Charles/Eison, James (1991): Active Learning: Creating Excitement in the Classroom. Washington, DC: ASHE-ERIC Higher Education Report Nr. 1.

Bromley, Pam (2013): Active Learning Strategies for Diverse Learning Styles: Simulations Are Only One Method. In: The Teacher, S. 818-822.

Finster, David C. (1989): Developmental instruction: Perry’s model of intellectual development (part 1). In: Journal of Chemical Education 66(8), S. 659-661.

Finster, David C. (1991): Developmental Instruction. (part ll. application of the Perry model to general chemistry.) In: Journal of Chemical Education 68(9), S. 752-756.

Freeman, Scott et al. (2013): Active learning increases student performance in science, engineering, and mathematics. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 111 (23), S. 8410–8415.

Goerres, Achim/Kärger, Caroline/Lambach, Daniel (2015): Aktives Lernen in der Massenveranstaltung: Flipped-Classroom-Lehre als Alternative zur klassischen Vorlesung in der Politikwissenschaft. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 25(1), S. 135-152.

May, Michael (2007). Demokratiefähigkeit und Bürgerkompetenzen: Kompetenztheoretische und normative Grundlagen der politischen Bildung. Wiesbaden: VS.

May, Michael (2010): Demokratiefähigkeit – Kompetenztheoretischer Ansatz und Kompetenzmodelle empirischer Studien im Vergleich. In: Lange, D./Himmelmann, G. (Hrsg.): Demokratiedidaktik. Wiesbaden: VS, S. 157-171.

Perry, William G. (1981): Cognitive and Ethical Growth: The Making of Meaning. In: Chickering, A. W. (Hrsg.): The Modern American College: Responding to the New Realities of Diverse Students and a Changing Society. San Francisco: Jossey-Bass, S. 76-116.

Prince, Michael (2004): Does active learning work? A review of the research. In: Jounal of Engineering Education 93 (3), S. 223–232.

Wilson, Bruce M./Pollock, Philip H./Hamann, Kerstin (2007): Does Active Learning Enhance Learner Outcomes? Evidence from Discussion Participation in Online Classes. In: Journal of Political Science Education 3 (2), S. 131-142.

Winter(semester) is coming

Der Sommer war lang und warm, und in punkto Hochschullehre war ich hauptsächlich mit der Korrektur von Hausarbeiten und der Betreuung verschiedener Abschlussarbeiten beschäftigt. Gerade letzteres wäre auch nochmal eine genauere Betrachtung wert, weil das Betreuungsverhältnis nur selten Gegenstand didaktischer Reflexion ist – aber dazu vielleicht ein andermal mehr.

Die Vorbereitung auf das Wintersemester steht vor der Tür. Auch dieses Mal werde ich die Vorlesung „Internationale Beziehungen und Global Governancen“ im Inverted Classroom-Format abhalten. An der Grundstruktur und den Themen, den Kompetenzzielen und der Lehrphilosophie ändert sich nichts. Allerdings möchte ich einige Anpassungen in den einzelnen Lehreinheiten vornehmen, überfrachtete Präsenzsitzungen entrümpeln und fehlgeschlagene Aktivitäten überprüfen.

Vor allem muss sich das Konzept dieses Jahr erneut bewähren, denn anders als im Vorjahr habe ich keine besondere personelle Unterstützung mehr dafür. Caroline und Tobias, die ich dank der Finanzierung durch den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft dafür beschäftigen konnte, haben jetzt andere Aufgaben, und ich muss sehen, wie ich alleine zurecht komme. Große Sorgen mache ich mir noch keine, denn auf die zeitaufwändige Erstellung neuen Lehrmaterials kann ich – bis auf kleine Anpassungen – dieses Mal verzichten.

Auch diese Kohorte von Studierenden werden wir wieder an einigen Stellen im Semesterverlauf zu ihren Eindrücken des Inverted Classroom befragen. Über die Ergebnisse berichte ich wieder an dieser Stelle.

Ehe es aber an die Vorbereitung geht, ist diese Woche noch der Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, praktischerweise in Duisburg. Wie bereits angekündigt, wird sich bei dieser Gelegenheit die Themengruppe „Hochschullehre“ gründen und sich in einer kombinierten Posterausstellung/Open Space mit Fragen rund um Lehre und Lernen in der Politikwissenschaft beschäftigen. Einen ausführlichen Bericht gibt es hinterher natürlich auch.

Und etwas zu gewinnen gibt es auch noch: Den ersten fünf Leuten, die sich während der Tagung als Leser_innen dieses Blogs zu erkennen geben, spendiere ich einen Kaffee.

Postersession/Open Space „Hochschullehre“ bei DVPW-Tagung

Die Gründungssitzung der Themengruppe Hochschullehre der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) geschieht im Rahmen der DVPW-Tagung, die am 21.-25. September 2015 in Duisburg stattfindet.

Am letzten Konferenztag (siehe Tagungsprogramm) findet zunächst eine Postersession und Open Space zu politikwissenschaftlicher Hochschullehre statt, die von der Gründungsveranstaltung gefolgt wird.

Für die Postersession (9.00-10.30, LB 137) sind die folgenden Poster angemeldet:

  • Mai-Britt Ruff / Tobias Heinze / Ulrich Hamenstädt:  „Machen wir Frieden mit den Drogen“: Die Entwicklung eines Planspiels im Rahmen der universitären Lehre
  • Judith Gurr / Anna Meine / Friedrich Arndt: Podcasts zur systematischen Entwicklung von Fragestellungen in politikwissenschaftlichen Arbeiten (insbesondere in der politischen Theorie)
  • Andreas Blätte / Karina Hohl: Case Teaching: Eine Open-Access-Sammlung von Fallstudien für die politikwissenschaftliche Lehre
  • Daniel Lambach / Caroline Kärger: Aktives Lernen in der Massenvorlesung: Der Inverted Classroom in der politikwissenschaftlichen Lehre
  • Tatjana Reiber / Julia Leininger: Das Konzept eines Lehrbuchs „Lehre in der Politikwissenschaft“

Zweck dieser Session ist das gegenseitige Kennenlernen und der Austausch über gemeinsame Interessen in der Hochschullehre. Daher wird ein Teil des Raums auch als Open Space für spontane Gesprächsrunden hergerichtet.

Im Anschluss findet im Nachbarraum (11.00-12.30, LB 138) die Gründungsveranstaltung statt. Dort sollen Sprecher_innen gewählt, über Austauschformate diskutiert und die thematischen Schwerpunkte der nächsten Jahre besprochen werden.

Alle Gruppenmitglieder und andere interessierte Politikwissenschaftler_innen sind herzlich eingeladen!

Inverted Classroom – one size fits all?

Es gibt eine noch kleine, aber wachsende und sehr aktive Gemeinde von Inverted Classroom-Nutzer_innen im deutschsprachigen Raum. Diese Gemeinde vernetzt sich über jährliche Tagungen, über den Twitter-Hashtag #icmchatde und über monatliche Videochats. Nachdem ich meinen ursprünglich für April geplanten Beitrag dazu kurzfristig absagen musste, hatte ich vorige Woche endlich eine Gelegenheit, den versammelten Expert_innen ein paar Überlegungen zu präsentieren.

Die Frage, die mich dabei umtrieb, war: Wie sehr muss das Inverted Classroom Model (ICM) an fachdisziplinäre Kontexte angepasst werden?

Meine These ist, dass das ICM einigen Anpassungsbedarf hat, so wie jede Lehrmethode. Daher sollten sich Beschreibungen des ICM nicht zu sehr auf bestimmte Lehr-/Lernformen konzentrieren, sondern besser die Prinzipien des ICM herausarbeiten.

Ich möchte damit nicht behaupten, dass ich damit eine alles beherrschende Orthodoxie in der ICM-Gemeinde umstürzen muss – das wäre ein Strohmannargument. Stattdessen behaupte ich, dass ICM aus einem fachdisziplinären Hintergrund kommt und dessen Annahmen, Traditionen und Kultur übernimmt, und ich möchte hinterfragen, ob diese Annahmen für alle gelten, bevor wir sie unkritisch verallgemeinern.

Dieses fachdisziplinäre Erbe möchte ich mit drei Beispielen illustrieren: Videos in der Vorbereitungsphase, die Vorbereitungsphase zur Vermittlung von Basiswissen und Einzel-/Gruppenarbeiten in der Präsenzphase.

  1. Sehr viele Berichte stellen Videos als zentrales Medium in den Mittelpunkt der Vorbereitungsphase. Nicht wenige enthalten detaillierte Anweisungen zur Videoproduktion. Es gibt aber für mich keinen didaktisch nachvollziehbaren Grund, Videos grundsätzlich anderen Vermittlungsformen vorzuziehen. Für manche Dinge (Darstellungen, Sequenzen, Prozesse) ist ein Video natürlich sehr hilfreich, für andere eignen sich Text oder Podcasts besser.
  2. Dass die Vorbereitungsphase dem passiven Lernen von Basiswissen dient, ist gewissermaßen die Kerninnovation des ICM. Man kann diese Phase aber auch für andere Dinge nutzen, z.B. zur Irritation der Studierenden, zur Abfrage von Einstellungen, aber auch zum aktiven Lernen (eigene Recherche, Problemdefinition), um damit den Auftakt für die weitere Arbeit in der Präsenzphase zu machen.
  3. Viele Darstellungen des ICM betonen die Möglichkeiten von Einzel- und Gruppenarbeiten in der Präsenzphase. Das ist natürlich eine wichtige Möglichkeit, die auch den Reiz von ICM ausmacht. Aber auch hier muss die Methode zum Lernziel passen: Manchmal sind Aktivitäten im Plenum (z.B. strukturierte Diskussionen, aktives Plenum) oder sogar der ungeliebte Lehrvortrag ein geeignetes Mittel.

Diese Vorfestlegungen kommen, zumindest meiner Meinung nach, aus dem disziplinären Hintergrund des ICM. Die ersten Anwender_innen kommen aus Fächern, die sich selbst als hard sciences verstehen (MINT-Fächer, Wirtschaftswissenschaft). Die Lehre in diesen Fächern ist durch bestimmte Eigenschaften charakterisiert:

  • Antworten können dort oft als richtig/falsch oder anhand des Lösungswegs bewertet werden, was Feedback relativ einfach macht. In den Sozial- und Geisteswissenschaften muss Feedback differenzierter eingesetzt werden, weil der zu kritisierende Gegenstand sich nicht in die Dichotomie richtig/falsch fügt.
  • In diesen Fächern gibt es an Universitäten eine Tradition von Einzel- und Gruppenarbeiten, z.B. über die Übungszettel in der Mathematik und Informatik oder die Laborpraktika in den Naturwissenschaften.
  • Diese Fächer haben i.d.R. keine Tradition eigenständigen Lesens. Dagegen sind Studierende in den „Buchwissenschaften“ entsprechend sozialisiert, dass ihnen eigenständige Lektüre zur Vorbereitung nicht fremd ist.
  • In den hard sciences gibt es einen klar definierten disziplinären Wissenskanon. Das erleichtert den Austausch von Material, was zwei Vorteile bringt: Erstens macht es die eigenständige Videoproduktion attraktiver, wenn man erwartet, damit einen Beitrag auch für andere zu leisten, zweitens erleichtert es den Einstieg enorm, wenn man auf Materialien anderer Leute zurückgreifen kann.

Ich behaupte, dass diese Rahmenbedingungen unser Verständnis des ICM prägen – das muss aber nicht so sein. Dafür sollten wir aber zwei Dinge beherzigen: (1) Im ICM sollten die Lehr-/Lernformen nicht vorgegeben sein, und (2) wir sollten uns über die dem ICM zugrundeliegenden Prinzipien verständigen.

Wie könnten diese Prinzipien aussehen? Das Flipped Learning Network (FLN) hat eine Definition von Flipped Learning vorgeschlagen:

„Flipped Learning is a pedagogical approach in which direct instruction moves from the group learning space to the individual learning space, and the resulting group space is transformed into a dynamic, interactive learning environment where the educator guides students as they apply concepts and engage creatively in the subject matter.“

Die Unterscheidung von Flipped Learning und Flipped/Inverted Classroom ist mir zu subtil (und der ganze Ansatz ist mir ein zu transparenter Versuch, das Konzept mit dem eigenen brand name zu versehen), außerdem finde ich die Festlegung zu apodiktisch, dass „direct instruction“ in den individualisierten Lernraum gehört.

Die vier Elemente, die das FLN als Teil von Flipped Learning benennt, sind da schon aussagekräftiger:

  • Eine flexible Umgebung: Studierende haben unterschiedliche Möglichkeiten und Räume zu lernen und ihren Lernfortschritt zu demonstrieren.
  • Eine studierendenzentrierte Lernkultur
  • Eine reflektierte Platzierung von Inhalten und Lehrmaterialien im Lernprozess (siehe dazu auch Christian Spannagels sehr gute Ideen zur Lernprozessgestaltung: Blogpost, Video)
  • Eine professionelle Lehrkraft, die selbstreflexiv ist, mit anderen Lehrkräften zusammenarbeitet und den Lernfortschritt der Studierenden unterstützt.

Robert Talbert fügt dem noch hinzu, dass der Inverted Classroom auf lange Sicht die Studierenden zum eigenständigen Lernen befähigen sollte.

Ich kann dem im Wesentlichen zustimmen. Zwei Dinge möchte ich noch hervorheben, die in den Kriterien des FLN angedeutet sind: Erstens erfordert der Inverted Classroom ein anderes Rollenverständnis der Lehrperson – statt dem „sage on the stage“ muss man nun „guide on the side“ sein. Zweitens benötigt der Inverted Classroom mehr Feedback als andere Lernformate. Wenn Studierende alleine oder in Gruppen lernen sollen, müssen sie (häufig und regelmäßig) eine Rückmeldung über ihren Lernfortschritt erhalten; dies gilt für Vorbereitungs- und Präsenzphase gleichermaßen.

Gerade jetzt ist diese Verständigung darüber wichtig. Die Nutzer_innengemeinde wird größer, ist aber weiterhin auf die bekannten Fächer konzentriert. Einsteiger_innen anderer Fächer bekommen wir aber nicht so leicht an Bord, wenn sie von einem zu sehr anhand anderer Fachlogiken normierten Konzept abgeschreckt werden. Diese Normierung findet aktuell statt, über Bücher, Anleitungen, Leitfäden und Trainingsmaterialien, und wird die kommende Generation von Nutzer_innen fundamental prägen.

Was also tun? Wir sollten darauf achten, die Vielfalt von ICM-Formen anzuerkennen und angemessen wiederzugeben, wenn wir das Konzept erläutern. Eine Definition des Inverted Classroom wäre dazu nett, aber ist auch kein sine qua non für eine sinnvolle Weiterentwicklung. Wichtiger ist ein klarer Fokus auf die Prinzipien des ICM, kein Festhalten an den Lehrformen. Stattdessen muss sich jede ICM-Anwendung und jede darin verwendete Lehrform anhand einer klaren Kompetenz- bzw. Lernzielorientierung begründen lassen.

Dies fasst die Kernpunkte meines Inputreferats zusammen. Die Diskussion danach war rege und interessant. Anstatt sie hier noch zusammenzufassen, verweise ich auf die Aufzeichnung des Videochats. Vielen Dank auch an Sebastian Schmidt für die Moderation.

Lernen Studierende im Inverted Classroom mehr?

Es gibt einige interessante Ergebnisse zur Effektivität des Inverted Classroom und ich freue mich diese hier präsentieren zu können. Allerdings diese Ergebnisse sind nicht aus meinem eigenen Lehrprojekt – dort sind Aussagen zu Lerneffekten schwierig, da es keine gesonderte Prüfung sondern eine Modulprüfung zur Vorlesung gibt. Da es sich dabei auch noch um eine mündliche Prüfung ohne festen Fragenkanon handelt, gibt es keine Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Kohorten.

Erfreulicherweise sind wir aber nicht die einzigen, die an unserer Fakultät mit dieser Lehrmethode arbeiten. Mein Kollege Achim Goerres (Webseite, Blog) setzt den Inverted Classroom seit mehreren Semestern in der Methodenausbildung unserer Studierenden ein. So hat er beispielsweise seine BA-Vorlesung „Methoden der empirischen Sozialforschung“ teilinvertiert, d.h. einzelne Sitzungen werden im Inverted Classroom-Format abgehalten, der Rest als klassische Vorlesung. Am Semesterende müssen die Studierenden eine Klausur zur Vorlesung bestehen.

Aus der Perspektive der Lehr-Lern-Forschung hat das den besonderen Charme, dass es uns eine quasi-experimentelle Ausgangslage liefert. Erstens können wir einzelne Prüfungsfragen genau den Sitzungen zuordnen, in denen die entsprechenden Themen behandelt wurden. Zweitens hat Achim Goerres die Vorlesung im Wintersemester 2012/13 noch in klassischer Weise gehalten, in den folgenden Wintersemestern aber eine bestimmte Einheit invertiert. Das ermöglicht es uns, die Leistungen der Studierenden aus der Kohorte 2012/13 mit den Leistungen der Kohorte 2013/14 in genau denjenigen Fragen zu vergleichen, die mittels Inverted Classroom unterrichtet worden waren.

Wie Achim Goerres, Caroline Kärger und ich in einem Papier darlegen, das demnächst in der Zeitschrift für Politikwissenschaft erscheint (Bd. 25, Nr. 1, S. 137-154, Preprint bei Academia.edu und Researchgate), erzielte die Kohorte, die mittels Inverted Classroom unterrichtet worden war, systematisch bessere Ergebnisse bei Fragen, die die Anwendung von Konzepten verlangte. Bei Fragen, die lediglich das Verständnis von Begriffen überprüften, gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen.

Wer sich für die Details interessiert, sei auf das verlinkte Papier verwiesen. Als Kurzfassung ist hier die relevante Passage aus dem Text:

Vier Prüfungsfragen können über alle Prüfungen hinweg als äquivalent angesehen werden (siehe Tabelle 1). Frage 1 verlangte von den Studierenden, vier verschiedene Variablen anhand der Beschreibung bezüglich ihres Skalenniveaus (nominal, ordinal, metrisch) und der Unterscheidung latent/manifest einzuordnen. Frage 2 beschrieb eine Situation, in der Triangulation angewendet wurde, so dass die Studierenden den Begriff benennen mussten. Frage 3 beschrieb ein inhaltsanalytisches Kodierprojekt, bei dem Probleme des manuellen Kodierens mit Reliabilität und Objektivität benannt werden mussten. Frage 4 fragte nach den Idealeigenschaften eines Indizes. Die vier Fragen unterschieden sich im Aufwand (maximale Punktzahl zwischen 2 und 4), Schwierigkeitsgrad (% des Maximums am Mittelwert), im Format (Multiple Choice versus offene Fragen) und im Lernziel nach Bloom (Verstehen versus Anwenden).

Diese Varianz in der Fragenart können wir systematisch in einer Regressionsanalyse ausbeuten. Im einfachen Vergleich der Punktergebnisse (siehe Tabelle 1) sehen wir, dass die Fragen 1 bis 3 in der FC-Gruppe leicht besser als in der Nicht-FC-Gruppe beantwortet wurden. Hier spielen allerdings die Unterschiede in den Eingangskohorten hinein, da die 2013/14er Kohorte im Schnitt besser war.

Aus Platzgründen präsentieren wir hier überblicksartig nur einige ausgewählte Regressionsergebnisse, die der Hypothese nachgehen, dass die Teilnahme an einer FC-Kohorte im Schnitt mit einer höheren Punktzahl in der Prüfung einhergeht. Wir kontrollieren für die Gesamtpunktzahl als Messung der latenten Fähigkeit, das Geschlecht, den Prüfversuch des Prüflings (1., 2. oder 3. Versuch), den Prüftermin (regulärer Termin versus Wiederholungstermin), die Art der Frage (Multiple Choice versus offene Frage), die Art des Lernziels (Anwendung versus Verstehen) und als alternative Messung für Art der Frage und Lernziel den Schwierigkeitsgrad. Genauere Details befinden sich im Anhang. Die Regressionsanalyse hat das Punktergebnis bei einer Frage als abhängige Variable.

Kurz gesagt: Es gibt keinen eindeutigen Effekt der FC-Gruppe für alle Prüffragen. Der direkte Effekt der Mitgliedschaft in einer FC-Gruppe ist zwar leicht positiv mit 0,02 auf einer Punktskala von 0 bis 4 in dem Grundmodell mit allen Kontrollvariablen, aber nicht sehr präzise (p-Wert des einseitigen Tests 0,36). Mit anderen Worten: unter Konstanthaltung einer ganzen Reihe von Effekten wirkte sich die Teilnahme an einer FC-Gruppe im Schnitt nicht auf das Punktergebnis aus.

Interessanter wird es, wenn man untersucht, ob die Art der Fragen einen Unterschied ausmacht (über eine Interaktionsanalyse). Auch hier kann man keinen präzisen Effekt finden, wenn man Multiple Choice versus offene Fragen und generell die Schwierigkeit der Frage als Kontextvariable für die FC-Gruppenteilnahme schätzt. Allerdings zeigt sich bei der Unterscheidung nach Lernzielen ein systematisches Muster. Für die Prüffragen, die eher das Verstehen nach Bloom zum Ziel haben, hat der FC keinen positiven Effekt. Für Prüffragen, die eher die Anwendung von Wissen, also ein höherwertiges Ziel, anstreben, hat der FC einen signifikant positiven Effekt (p-Wert = 0,01) von 0,21 auf der Punktskala, das heißt im Schnitt wurden Anwendungsprüffragen unter Kontrolle der vielen Faktoren von Prüflingen, die in FC-Gruppen waren und damit die Möglichkeit gehabt hatten, an der Sitzung teilzunehmen, mit 0,21 Punkten besser absolviert. Weitere Interaktionsanalysen, wie mit dem Termin der Prüfung, dem Prüfversuch (1., 2., 3.) und der Gesamtzahl erreichter Punkte, brachten keine weiteren systematischen Muster zutage. Gerade der letzte Befund ist noch einmal bemerkenswert. Er deutet nämlich darauf hin, dass die FC-Möglichkeit nicht grundsätzlich für „High Performer“ mehr gebracht hat als für „Low Performer“.

In Summe lassen die Befunde ein besseres Prüfergebnis für tiefergehende Fragen bei den Studierenden nachweisen, die in der FC-Gruppe waren. Dieses Ergebnis besteht unabhängig von der generellen Leistungsfähigkeit der Studierenden und ohne Kenntnis darüber, ob der betreffende Studierende tatsächlich an der Sitzung teilgenommen hatte. Der Befund ist umso erstaunlicher, weil nur eine einzige Vorlesungssitzung ausgetauscht worden war. Zudem lässt sich keine Interaktion zwischen dem Format und der individuellen Performanz der Studierenden zeigen, das heißt sehr gute Studierende schnitten durch die Teilnahme an der FC-Sitzung nicht besser ab, bzw. sehr schlechte Studierende nicht noch schlechter. Eine Zweiteilung dieser Vorlesungsform auf unterschiedliche Studierendengruppen konnten wir nicht belegen. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die Effektivität des FC anhand der Prüfungsergebnisse untersucht wurde und nicht durch eine Selbsteinschätzung der Studierenden. Die Ergebnisse anderer FC-Anwendungen verdeutlichen, dass eine Mehrheit der Studierenden in der Selbsteinschätzung angibt, in diesem Format einen höheren Lernerfolg zu haben als im klassischen Vorlesungsformat (Decker/Beier 2014: 11 f.; Lage/Platt/Treglia 2000: 35 ff.).

Das ist sicher kein Ergebnis, aus dem man allzu weitreichende Folgerungen ableiten kann. Aber es fügt sich nahtlos in das Bild vieler anderer Studien ein, die die Wirksamkeit des Inverted Classroom belegen. Gerade das differenzierte Ergebnis, wonach der Inverted Classroom für verschiedene Kompetenzziele unterschiedliche Lernerfolge bringt, ist sehr wichtig für seinen adäquaten und zielorientierten Einsatz.

Caroline Kärger beim E-Learning-Netzwerktag der UDE

Am 16. April veranstaltet die Universität Duisburg-Essen den E-Learning-Netzwerktag, um dort die ersten Zwischenergebnisse aus der Startphase der E-Learning-Strategie der Universität zu diskutieren. Wir freuen uns, dass Caroline Kärger, die Mitarbeiterin des Projekts, in der Vormittags-Session „Lehrkonzepte flexibilisieren: Einsatz von Blended Learning und Inverted-Classroom an der Hochschule“ unser Projekt und die ersten Ergebnisse der Studierendenbefragung vorstellen kann und hoffen auf einen regen Austausch mit den anderen Projekten.

Carolines Präsentation kann hier heruntergeladen werden.

 

Nachtrag (7.5.2015):

Der E-Learning-Netzwerktag war mit rund 100 Teilnehmer_innen gut besucht. Die Präsentationen können unter https://www.uni-due.de/e-learning/netzwerktag.php heruntergeladen werden.