Aktives Lernen als Mittel zur Demokratieerziehung in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre

In meinem Habilitationsvortrag habe ich die These diskutiert, dass Demokratiekompetenz – seit jeher ein Ziel der deutschen Politikwissenschaft – am besten durch aktives Lernen gefördert werden kann. (Ich bin mir der Ironie durchaus bewusst, dass ich einen Vortrag über aktives Lernen gehalten habe. Unter normalen Umständen hätte ich dieses Format lieber interaktiver gestaltet, während eines Habilitationsverfahrens schien mir das aber nicht angebracht.)

Da mich mehrere KollegInnen danach gefragt haben und es keine Aufzeichnung des Vortrags gibt, möchte ich das leicht editierte Manuskript meines Vortrags hier veröffentlichen. Über Kommentare und Kritik freue ich mich sehr.

Einleitung

Warum habe ich dies als Thema vorgeschlagen? Dazu gibt es drei persönliche Erwägungen sowie eine realweltliche Komponente:

  1. Erstens eine didaktische Erwägung: Ich habe mich im Rahmen meines Inverted Classroom-Projekts eingehend mit der Lehr-Lern-Forschung auseinandergesetzt. Deren Erkenntnisse haben mich zu einem leidenschaftlichen Verteidiger aktiver Lehr-Lernformen gemacht. Die Forschung bestätigte meine aus langer Praxis gewonnene Unzufriedenheit mit vortragsbasierter Lehre (Vorlesung, Referate).
  2. Zweitens eine demokratiepolitische Erwägung: Ich bin mit dem intellektuellen Niveau politischer Debatten in unserer Demokratie nicht zufrieden und möchte dazu beitragen, dass sich dies verbessert. Der Gedanke der Aufklärung, dass Menschen durch Zugang zu Wissen auch zu tugendhafteren Wesen werden, ist naiv. Dennoch glaube ich an die Kraft des überlegenen Arguments.
  3. Drittens eine biographische Erwägung: Ich wünsche mir eine ausschweifendere Diskussionskultur unter und mit Studierenden. Aus meiner eigenen Studienzeit habe ich diese als lebendiger in Erinnerung. Ich bin sicher der letzte Dozent, der die alten Studiengänge überhöhen würde und ich kann dem Bologna-Prozess viel positives abgewinnen, aber mir ist in dem Zuge zu viel Konformität und Pragmatismus an die Studierenden vermittelt worden. Zur Demokratie gehört auch Streiten, auch mit Gleichgesinnten, und ich wünschte wir würden das öfter tun.

In realweltlicher Hinsicht mache ich mir Sorgen um die Demokratie in der Bundesrepublik, auch wenn wir inzwischen auf über 65 Jahre Geschichte zurückblicken können. Im Zuge der Wirtschaftskrise haben in vielen krisengeschüttelten Ländern wie Griechenland, Ungarn oder Italien antidemokratische oder populistische Parteien starken Zulauf erhalten. In Deutschland erleben wir das im Kleinen mit der AfD. In vielen westlichen Demokratien nimmt die Wahlbeteiligung seit langem ab, politische Partizipation in Parteien lässt nach und ein antipolitischer Gestus – wie von Beppe Grillo oder Donald Trump – erhält Zuspruch.

Aus dem Scheitern der Weimarer Republik haben wir die Lehre gezogen, dass Demokratien ohne Demokrat_innen nicht funktionieren. Wo aber kommen solche Demokrat_innen her? Klassisch strebt die politische Bildung danach, Demokrat_innen zu erzeugen, indem man den Bürger_innen bestimmte Haltungen vermittelt und diese an Werte wie Emanzipation, Mündigkeit und Freiheit bindet. Eine neuere Strömung in der politischen Bildung bedient sich des neuen Mainstreams in der Didaktik und diskutiert dies als Frage des Kompetenzerwerbs. Das Ziel ist nicht, überzeugte Demokrat_innen zu produzieren, sondern den Lernenden Handlungskompetenzen in der Demokratie zu vermitteln. Indem man Menschen zur Demokratie befähigt, sollen sie demokratiefeindlichen Positionen kritischer gegenüberstehen und die Demokratie insgesamt durch die Partizipation ihrer Bürger gestärkt werden.

Ich möchte in diesem Vortrag argumentieren, dass die politikwissenschaftliche Hochschullehre eine wichtige Rolle für die Demokratiefähigkeit unserer Studierenden spielen kann und dass wir diesen traditionsreichen Auftrag nicht vergessen sollten, und dass die dafür notwendige Demokratiekompetenz nicht durch Lehrvorträge und Frontaldidaktik vermittelt werden kann, sondern durch aktives Lernen.

Das erste Argument beruht auf der Annahme, dass Demokratiefähigkeit etwas ist, was auch Studierende – typischerweise junge Erwachsene – noch lernen können. Die Sozialisationsforschung sagt uns zwar, dass frühkindliche und schulische Prägungen wichtig sind, räumt aber auch die Möglichkeit späterer Weiterentwicklung ein. Ich möchte das Entwicklungspotential von Studierenden anhand des Entwicklungsmodells kognitiver und ethischer Urteilsfähigkeit von William Perry illustrieren, welches den Umgang mit Wissen und Autorität als zentrale Differenzierungsmerkmale verwendet.

Ich behaupte, dass die politikwissenschaftliche Hochschullehre in diesem Entwicklungsprozess eine wichtige Rolle zu spielen hat. Das bedeutet, dass wir in allem – berechtigten – Nachdenken über employability einen Gründungsauftrag der bundesdeutschen Politikwissenschaft vergessen haben, nämlich die Demokratieerziehung. Angesichts der eingangs geschilderten Gefahren für die Demokratie halte ich diese Aufgabe weiterhin für wichtig.

Das zweite Argument lautet, dass wir Demokratiekompetenz am effektivsten durch aktivierende Lernformen vermitteln können. Dazu werde ich zunächst ein Modell der Demokratiekompetenz vorstellen. Danach ziehe ich die Lehr-Lernforschung zu aktivem Lernen heran, um ihre Relevanz für die zentralen Komponenten von Demokratiekompetenz herauszustellen.

 

Theorie

Heutige Demokratien müssen sehr pluralistische und diverse Gesellschaften steuern. Gleichzeitig führen Globalisierung und Technisierung zur Entgrenzung und Beschleunigung von sozialer Interaktion. In der Interaktion prallen unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, die nicht durch gemeinsame Referenzpunkte vereint werden können; Symbole und Diskurse sind mehrdeutig. Für viele Bürger ist der tagtägliche Umgang mit dieser Komplexität kognitiv anstrengend; deshalb wünscht sich so mancher eine imaginierte Vergangenheit zurück, in der alles einfach und geordnet vonstatten ging. Die Fähigkeit zum Umgang mit dieser Komplexität ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für den Erwerb von Demokratiekompetenz.

Der Entwicklungspsychologie William Perry hat ein deskriptives Schema entwickelt, dass die typischen Schritte kognitiver und ethischer Entwicklung von Studierenden beschreibt. Es ähnelt anderen Stadienmodellen wie denen von Piaget oder Kohlberg, ist aber für diese Diskussion hilfreicher, weil es auf den Entwicklungsprozess von Teenagern und Erwachsenen konzentriert ist.

Das Schema unterstreicht die Notwendigkeit einer konstruktivistischen Didaktik, bei der das Lernen aus der Konstruktion von Sinnzusammenhängen durch die Lernenden besteht. Die zentrale Frage lautet jeweils, was die Person über Wissen und Wissenserwerb denkt, und welche Rolle Autoritäten (Lehrer, Eltern etc.) dabei spielen. Im konstruktivistischen Sinne werden Studierende während ihres Fortschritts immer mehr bereit und befähigt dazu, ihre eigene Urteilsfähigkeit einzusetzen.

Das Schema umfasst neun Schritte. Es wird von einem linearen Fortschritt ausgegangen (Stufen können nicht übersprungen werden), aber Rückschritte und Stagnation sind ebenfalls möglich. Studierende beginnen ihr Studium in unterschiedlichen Stufen, bei den meisten ist im Studienverlauf ein Fortschritt zu beobachten. Es ist möglich, dass Studierende in unterschiedlichen Wissensfeldern unterschiedliche Stadien einnehmen. Das Schema ist nicht dafür gedacht, Entwicklungsfortschritte in einzelnen Lehrveranstaltungen nachzuzeichnen, sondern beschreibt längerfristige, sehr viel fundamentalere Entwicklungen des Denkens über die gesamte Bildungsbiografie hinweg.

Finster 1989 Schaubild

Quelle: Finster 1989: 659.

Das Schema besteht aus Positionen (Punkte) und Transitionen (der Übergang zwischen Positionen). Perry schildert Positionen und Transitionen anhand typischer Äußerungen von Studierenden, die in der folgenden Tabelle zusammengefasst sind (Perry 1981: 79):

Dualismus 1 Position: Die Autoritäten kennen die richtigen Antworten und ich kann sie von ihnen lernen.
Transition: Aber es gibt auch andere Ansichten. Manche Autoritäten sind nicht derselben Meinung.
Modifizierter Dualismus 2 Position: Die Wahren Autoritäten haben die richtigen Antworten, die anderen sind Falsche Autoritäten.
Transition: Aber selbst die Wahren Autoritäten gestehen ein, dass sie noch nicht alle richtigen Antworten kennen.
3 Position: Gewisse Unsicherheiten und unterschiedliche Ansichten sind zeitweise normal, selbst für Wahre Autoritäten. Sie arbeiten daran, um die Wahrheit zu entdecken.
Transition: Aber es gibt so viele Dinge, zu denen die Wahren Autoritäten noch keine Antworten kennen. Und sie werden noch sehr lange brauchen, um diese zu entdecken.
Entdeckung des Relativismus 4a Position: Wenn die Autoritäten keine Antworten haben, dann hat jeder ein Recht auf seine eigene Meinung. Keine Antwort ist falsch.
Transition 1: Aber meine Freunde fordern mich auf, meine Meinung mit Fakten und Argumenten zu begründen.

Transition 2: Aber wie können die Autoritäten mir dann eine Note geben? Auf welcher Grundlage tun sie dies?

4b Position: In manchen Kursen wollen die Autoritäten keine richtigen Antworten. Sie möchten, dass wir über Probleme auf eine bestimmte Weise nachdenken und unsere Meinung mit Fakten begründen. Dafür werden wir bewertet.
Transition: Aber dieses Vorgehen funktioniert auch in anderen Kursen und auch außerhalb der Hochschule.
5 Position: Dann muss alles Denken so sein, auch für die Autoritäten. Alles ist relativ, aber nicht gleichermaßen gültig. Man muss verstehen, wie der Kontext funktioniert. Theorien sind keine Wahrheit, sondern Metaphern zur Interpretation von Daten. Man muss über sein eigenes Denken nachdenken.
Transition: Aber wenn alles relativ ist, ist es mein eigenes Denken auch. Woher weiß ich, dass ich die richtige Wahl treffe?
Entscheidungen im Relativismus 6 Position: Ich verstehe, dass ich in einer unsicheren Welt eigene intellektuelle Entscheidungen treffen muss, ohne dass mir jemand sagen kann, dass diese wahr sind.
Transition: Sobald ich eine große Sache entschieden habe (z.B. die Wahl meines Berufsfeldes, meines Glaubens, meiner Beziehungen), wird alles klarer.
7 Position: Ich habe meine erste Entscheidung getroffen.
Transition: Aber damit hat sich die Unsicherheit nicht gelegt.
8 Position: Ich habe mehrere Entscheidungen getroffen. Ich muss diese jetzt ausbalancieren – wie viele, wie tiefgehend, wie sicher oder vorsichtig?
Transition: Aber manche meiner Entscheidungen sind widersprüchlich. Ich kann die Dilemmata des Lebens nicht logisch ordnen.
9 Position: So ist das Leben. Ich muss für meine Entscheidungen einstehen ohne sie zu verabsolutieren, für meine Werte kämpfen aber andere respektieren, an meine Überzeugungen glauben aber bereit sein dazuzulernen. Meine Entwicklung wird nie an einem Endpunkt ankommen.

 

Die Relevanz dieses Entwicklungsschemas für die Demokratiekompetenz ist offensichtlich, z.B. kann der Urteilende Relativist (Phase 6+) ganz anders mit anderen Meinungen umgehen als der Dualist (Phase 2), er erkennt die Validität anderer Sichtweisen an und toleriert sie, soweit sie auf einer nachvollziehbaren Logik beruhen.

Fortschritt besteht hier darin, seine eigenen Positionen intersubjektiv artikulieren zu können, selbstreflexiv mit seinen Haltungen umzugehen und sich kritisch, aber respektvoll mit anderen Positionen auseinanderzusetzen. Dies sind ganz entscheidende Fähigkeiten für das Leben in einer Demokratie.

 

Demokratiekompetenz

Es gibt eine Reihe von Ansätzen zur Operationalisierung von Demokratiekompetenz. Ich stelle hier nur den zentralen Ansatz von Michael May (2007, 2010) vor. May entwirft ein Konzept von Demokratiefähigkeit, das sich aus der Vorstellung von Demokratie als rekursivem Prozess des Problemlösens i.S. von Lasswell ableitet. Daraus leitet er vier Kernkompetenzen ab:

  1. Sozialwissenschaftliche Analysekompetenz: „[die Fähigkeit] die Regeln und Codes des jeweiligen Funktionsbereiches (z.B. Politik, Wirtschaft) kognitiv angemessen zu repräsentieren und konkrete Sachverhalte des Funktionsbereiches unter Rückgriff auf diese Regeln zu erklären“ (May 2010: 160). Hier geht es darum, Ziel-Mittel-Rationalitäten einzuschätzen.
  2. Moralische Urteilskompetenz: „Hiermit ist die Fähigkeit angesprochen, unter Rückgriff auf Konzepte des Guten oder Gerechten wertende Aussagen zu entwickeln“ (May 2010: 160). Hier geht es um die moralische Angemessenheit von Zielen und Mitteln demokratischer Politik.
    à Analyse- und Urteilskompetenz ergeben zusammen politische Urteilskompetenz, d.h. die Fähigkeit Entscheidungen zu Sachverhalten zu treffen, welche aus analytischen und moralischen Positionen bestehen.
  3. Kompetenz zur Vermittlung konfligierender Positionen: Gemeint ist damit die argumentative Auseinandersetzung mit gegenüberstehenden Positionen, um den Konflikt durch Konsens, Kompromiss oder autoritative Entscheidung über demokratische Institutionen zu vermitteln.
  4. Partizipationskompetenz: „Hierbei geht es um die Bereitschaft, die ersten drei Kompetenzen in das politische Geschehen einzubringen. Dies kann mit jeweils unterschiedlicher Reichweite und Intensität erfolgen (reflektierter Zuschauer/Wahlbürger, interventionsfähiger Bürger, Aktivbürger)“ (May 2010: 161).

Kurz gesagt stellt sich May demokratiefähige Bürger_innen so vor, dass sie politische Prozesse verstehen und analytisch wie moralisch bewerten können, mit unterschiedlichen Positionen respektvoll und klar umgehen, und sich aktiv in den Alltagsbetrieb der Demokratie einbringen. Mays Kompetenzdimensionen lassen sich gut in Perrys Schema umsetzen. Für Mays Kompetenz zur Vermittlung konfligierender Positionen muss sich ein Bürger eine eigene Meinung bilden, mit dieser kritisch und selbstreflexiv umgehen, offen für andere Meinungen und bereit zum demokratischen Diskurs sein. Unterhalb von Perrys Stufe 6 ist das kaum zu machen.

Ich könnte noch weitere Definitionen von Demokratiekompetenz hervorholen, die sich aber von dieser nicht radikal unterscheiden würden. Die einzige Ausnahme wäre, dass manche Konzepte, die sich stärker an klassischen Vorstellungen von Demokratiefähigkeit oder Demokratie-Lernen orientieren (z.B. Himmelmann) pro-demokratische Werte und Einstellungen (z.B. Achtung der Menschenwürde, Anerkennung der Gleichheit aller Menschen) oder andere affektive Lernziele berücksichtigen. In den kognitiven und instrumentellen Fertigkeiten weisen die verschiedenen Konzepte von Demokratiekompetenz aber eine deutliche Familienähnlichkeit miteinander auf.

In der Diskussion im Demokratiekompetenz taucht die Hochschullehre leider kaum auf, lediglich die schulische und außerschulische Politische Bildung. Da wir aber dank Perry u.a. wissen, dass die Sozialisation nicht mit dem Schulabschluss aufhört, können wir daraus ableiten, dass auch die Hochschullehre eine wichtige Rolle in der Vermittlung von Demokratiekompetenz zu spielen hat. Wenn die deutsche Politikwissenschaft diesen Auftrag annimmt, dann ist die Frage, mit welchen Mitteln dies am effektivsten erreicht werden kann.

 

Aktives Lernen

Der Kern meines Arguments lautet, dass man Demokratiekompetenz nicht durch Faktenwissen erwirbt, sondern nur durch konkrete Handlungsfähigkeit. Diese entsteht nicht durch die passive Rezeption von Wissen, sondern – im konstruktivistischen Sinne – durch die eigenständige Erschließung und eigenständige Sinnstiftung. Dies erfordert die Möglichkeit zum aktiven Lernen.

Aktives Lernen ist überraschend schwer zu definieren – einen Konsens in der Literatur gibt es nicht. „The core elements of active learning are student activity and engagement in the learning process“ (Prince 2004: 223). Dieses Zitat spricht die wesentlichen Elemente von aktivem Lernen an: eine Beteiligung der Studierenden an ihrem eigenen Lernprozess, der in Form von Aktivitäten stattfindet.

Um die Besonderheit aktiven Lernens hervorzuheben, kontrastiere ich es idealtypisch mit dem traditionellen Lehrvortrag. Mir ist klar, dass beides in der Praxis nicht in Reinform zu finden ist. In drei Aspekten wird dieser Unterschied deutlich.

Aspekt Aktives Lernen Lehrvortrag
Rolle der Lernenden Lernende erschaffen Wissen durch die Hilfe der Lehrenden Lernende empfangen Wissen von Lehrenden
Form Aktivitäten im Kurskontext unter Begleitung der Lehrenden Kontinuierliche Vorstellung des Materials durch Lehrende; Studierende machen Notizen und stellen unaufgeforderte Fragen
Kompetenzziele Anspruchsvolle kognitive Kompetenzen, z.B. Anwenden, Analysieren, Synthetisieren, Evaluieren Maximale Zahl von Informationen verstehen und wiedergeben

Aktives Lernen kann in vielen Formen stattfinden: Einzel-, Paar- oder Gruppenarbeiten, Nutzung von elektronischen Abstimmungssystemen mit/ohne Peer Instruction, Arbeitsblätter, Arbeit mit Tutoren, Werkstattarbeit, Rollenspiele und Simulationen, Anwendungsübungen, Problem-based learning (vgl. z.B. Bromley 2013, Bonwell/Eison 1991). Zum aktiven Lernen gehört nicht nur das Tun, sondern auch das Reflektieren. Letzteres ist theoretisch auch bei Lehrvorträgen nicht ausgeschlossen, dort aber nur schwer umzusetzen, weil dafür oft nicht die nötige Zeit bleibt.

In einer aufsehenerregenden Metastudie haben Freeman et al. (2014) 225 Studien zur Wirksamkeit aktiven Lernens ausgewertet. Sie fanden einen  signifikant positiven Effekt von aktiven Lernmethoden auf Prüfungsergebnisse; auch die Häufigkeit von Nichtbestehen wurde dadurch signifikant verringert. Dieses Ergebnis wird noch von einer Reihe weiterer Studien bestätigt. Wirksamkeit wird i.d.R. über den Lernzuwachs gemessen, den Studierende im Durchschnitt erreichen, entweder im Vergleich zwischen Experimental- und Kontrollgruppe oder durch Vorher-/Nachher-Messung.

Allerdings warnt Prince (2004) zurecht, dass der Effekt auf höhere Lernziele schwierig zu messen ist, weil diese Kompetenzen generell schwierig valide zu messen sind. Daher beschränken sich die meisten Studien darauf, niedere Kompetenzen wie Faktenwissen zu testen oder Prüfungsergebnisse als Proxy für den Lernerfolg heranzuziehen. Eine teilweise Ausnahme sind Concept Inventories, die anspruchsvoller sind, aber i.d.R. besonders analytische, Anwendungs- und Transferkompetenzen betonen.

Eine Metaanalyse der Wirksamkeit von aktivem Lernen, die nach Kompetenzebenen unterscheidet, scheint es noch nicht zu geben. Allerdings zeichnen mehrere Einzelstudien ein einheitliches Bild: höherwertige Kompetenzen werden durch aktives Lernen besser gefördert (Wilson/Pollock/Hamann 2007, Bonwell/Eison 1991: 2). Dies war eins der Ergebnisse aus einer Studie mit Achim Goerres und Caroline Kärger (2015) über die Lerneffekte des Inverted Classroom in Achims Statistik-Vorlesung: Anspruchsvollere Fragen wurden hier signifikant besser beantwortet als von einer Vergleichskohorte, die zu diesen Themen nicht per Inverted Classroom unterrichtet worden war. Bei einfachen Fragen, die nur auf Wiedergabe von Wissen abzielten, gab es keinen Unterschied. Dieses Bild wiederholt sich auch in anderen Studien: Anspruchsvollere Tests über Concept Inventories oder Essays zeigen i.d.R bessere Ergebnisse für Studierende, die ein Thema durch aktive Methoden gelernt haben. Demgegenüber eignet sich der Lehrvortrag genauso gut zur Memorisierung und Wiedergabe von Information. Eine Reihe von Studien zeigt, dass aktives Lernen auch zu höherem studentischem Engagement führt (gemessen z.B. in Zeitaufwand, Motivation und Interesse am Thema) (Prince 2004).

Wie es zu diesen positiven Effekten kommt, ist nicht klar, weil die Mechanismen nur schwer zu beobachten sind. Theoretisch plausible Annahmen wären eine bessere Mobilisierung von Vorwissen, durch Anknüpfung an bestehende Wissensbestände und Überzeugungen sowie eine bessere Motivation, weil die Agency der Lernenden ernstgenommen wird und daraus eine größere Leistungsbereitschaft entsteht. Letztlich zwingen uns auch diese Ergebnisse in Richtung einer konstruktivistischen Theorie des Lernens.

 

Aktives Lernen für Demokratiekompetenz

Es gibt bislang keine Forschung, die sich direkt mit diesem Thema auseinandersetzt. Auch hier gilt Princes Warnung, dass die Dimensionen von Demokratiekompetenz relativ komplex sind. Um meine Argumentation verständlich zu machen, muss ich noch eine Brücke über die klassische Taxonomie kognitiver Kompetenzen nach Bloom bauen.

Die oben erwähnte Forschung zeigt eindrücklich, dass aktives Lernen den Erwerb höherer kognitiver Kompetenzen fördert. Dies ist üblicherweise ausgedrückt in der klassischen Taxonomie von Lernzielen nach Bloom oder einer ihrer Varianten, mit der aufsteigenden Reihenfolge: Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse, Synthese, Evaluation.

Wie passt dies zu den Kompetenzdimensionen nach May?

  1. Sozialwissenschaftliche Analysekompetenz: Anwendung, Analyse, Evaluation
  2. Moralische Urteilskompetenz: Analyse, Evaluation
  3. Kompetenz zur Vermittlung konfligierender Positionen: Synthese, Evaluation
  4. Partizipationskompetenz: passt nicht in Blooms Schema, weil es hier nicht um eine kognitive Fähigkeit geht, sondern um eine „Bereitschaft, die ersten drei Kompetenzen in das politische Geschehen einzubringen“

Die ersten drei Dimensionen benötigen definitiv anspruchsvolle kognitive Kompetenzen. Dafür eignet sich aktives Lernen, soweit man der Forschung glauben kann. Dies kann man auch für die vierte Kompetenz argumentieren, weil aktives Lernen auch Motivation und Engagement im Lernprozess erzeugen. Außerdem demonstrieren einige Studien, dass mittels aktivem Lernen auch Einstellungen und Werthaltungen beeinflusst werden können, insofern scheint dies plausibel.

Ich kann dieses Argument auch nochmal an Perrys Schema zurückbinden. Finster (1991: 753) hat eine gute Übersicht für die Stufen 1-5 von Perrys Schema, welche Rollen dabei Lehrenden, Studierenden und Mitstudierenden zugeschrieben werden und welche intellektuellen Aufgaben (= Kompetenzen) von den Studierenden gefordert werden.

Finster 1991 Tabelle

Quelle: Finster 1991: 753.

An der Zeile „role of the student“ kann man gut Stufen 1-3 (Lehrvortrag) mit 4-5 (aktivierende Methoden) kontrastieren. Stufen 4 und 5 brauchen eine aktive Beteiligung der Studierenden: eigenes Denken, Herausfordern der Lehrenden, eigenständige Bewertung von Informationen und Urteilen. Auf diesen höheren Stufen ändert sich auch die Rolle des Lehrenden und der Peers (insb. auf Stufe 5 sichtbar) – statt einer Orientierung nach der Autorität des Lehrenden auf Stufen 1+2 ist nun jeder eine mögliche Quelle von Lernimpulsen.

 

Zusammenfassung

Ich habe hier argumentiert, dass die politikwissenschaftliche Hochschullehre eine wichtige Rolle in der demokratischen Sozialisation und Demokratiefähigkeit unserer Studierenden spielen kann und dass wir diesen traditionsreichen Auftrag nicht vergessen sollten, sowie dass die dafür notwendige Demokratiekompetenz nicht durch Lehrvorträge und Frontaldidaktik vermittelt werden kann, sondern durch aktives Lernen. Ich halte diese Argumentation für plausibel, auch wenn an manchen Stellen die empirische Evidenz noch nicht vollkommen geklärt ist. Das was wir bisher wissen, zeigt aber in die richtige Richtung.

Ich möchte dies nicht als Manifest verstanden wissen oder wenn, dann nur als mein persönliches. Es geht mir auch nicht darum, eine neue Orthodoxie zu etablieren. Vielmehr möchte ich ein Nachdenken und eine Diskussion anregen, wofür und wie wir Politikwissenschaft lehren.

Dem steht leider an deutschen Hochschulen eine Tradition des Beschweigens entgegen. Über Lehre wird kaum gesprochen, alle haben das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen, und für die Karriere ist die Forschung ohnehin wichtiger. Ich würde hier eine Transformation hin zu einer konstruktiven, kollegial unterstützenden Kultur sehr begrüßen, in der man sich gerne über die Lehre der anderen informiert, austauscht, voneinander lernt.

Dies war eine der Motivationen für die Gründung der Themengruppe Hochschullehre in der DVPW, die ich dieses Jahr initiiert habe – einen Austausch über die Lehre über den Kontext der eigenen Institution hinweg zu ermöglichen. Ironischerweise ist genau dies – die Vermittlung unterschiedlicher Positionen und die Bereitschaft zu Partizipation und Austausch – auch ein integraler Bestandteil von Demokratiekompetenz.

 

Verweise

Bonwell, Charles/Eison, James (1991): Active Learning: Creating Excitement in the Classroom. Washington, DC: ASHE-ERIC Higher Education Report Nr. 1.

Bromley, Pam (2013): Active Learning Strategies for Diverse Learning Styles: Simulations Are Only One Method. In: The Teacher, S. 818-822.

Finster, David C. (1989): Developmental instruction: Perry’s model of intellectual development (part 1). In: Journal of Chemical Education 66(8), S. 659-661.

Finster, David C. (1991): Developmental Instruction. (part ll. application of the Perry model to general chemistry.) In: Journal of Chemical Education 68(9), S. 752-756.

Freeman, Scott et al. (2013): Active learning increases student performance in science, engineering, and mathematics. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 111 (23), S. 8410–8415.

Goerres, Achim/Kärger, Caroline/Lambach, Daniel (2015): Aktives Lernen in der Massenveranstaltung: Flipped-Classroom-Lehre als Alternative zur klassischen Vorlesung in der Politikwissenschaft. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 25(1), S. 135-152.

May, Michael (2007). Demokratiefähigkeit und Bürgerkompetenzen: Kompetenztheoretische und normative Grundlagen der politischen Bildung. Wiesbaden: VS.

May, Michael (2010): Demokratiefähigkeit – Kompetenztheoretischer Ansatz und Kompetenzmodelle empirischer Studien im Vergleich. In: Lange, D./Himmelmann, G. (Hrsg.): Demokratiedidaktik. Wiesbaden: VS, S. 157-171.

Perry, William G. (1981): Cognitive and Ethical Growth: The Making of Meaning. In: Chickering, A. W. (Hrsg.): The Modern American College: Responding to the New Realities of Diverse Students and a Changing Society. San Francisco: Jossey-Bass, S. 76-116.

Prince, Michael (2004): Does active learning work? A review of the research. In: Jounal of Engineering Education 93 (3), S. 223–232.

Wilson, Bruce M./Pollock, Philip H./Hamann, Kerstin (2007): Does Active Learning Enhance Learner Outcomes? Evidence from Discussion Participation in Online Classes. In: Journal of Political Science Education 3 (2), S. 131-142.

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