Ein Gastbeitrag von Witold Mucha und Christina Pesch (Universität Düsseldorf)
Nicht erst seit Bologna wird von Seiten Studierender und Lehrender eine stärker internationalisierte und digitalisierte Hochschullehre gefordert. Diese Forderung spiegelt die veränderte Lebensrealität vieler Studierender wider: Studierende im Jahre 2019 sind vernetzter, digitaler, mobiler und internationalisierter als noch vor zehn Jahren. Gleiches gilt für Anforderungen, die an Universitätsabsolvent*innen von der Arbeitswelt gestellt werden. Dieser rasanten Entwicklung hat die Dozierendenzunft in den politikwissenschaftlichen Teildisziplinen bislang wenig entsprochen, basierte die Lehre bereits im Jahre 2009 in erster Linie auf der Lektüre zumeist anglo-amerikanisch dominierter Fachliteratur. Gleiches gilt für die in Vorlesungen und Seminaren auf Studierende übertragene Bewertungsstandards, die insbesondere anglo-amerikanischen oder europäischen Vorstellungen „guter“ Wissenschaft entsprechen. Autor*innen und Perspektiven aus dem Globalen Süden finden demgegenüber – auch bei grenzüberschreitenden Phänomenen wie menschlicher Mobilität, Klimawandel und Waffenhandel – im Rahmen bestehender Curricula und Syllabi kaum Berücksichtigung.
Vor diesem Hintergrund entstand im Sommer 2016 eine Lehrkooperation zwischen den Universitäten Pretoria und Düsseldorf. Konzepte wie blended learning und inverted classroom wurden nutzbar gemacht, um den politikwissenschaftlichen Lehrplan durch standortübergreifende Seminarkonzeptionen vor allem in international ausgerichteten Themenfeldern zu ergänzen. Inhaltliche Schwerpunkte des Kooperationsprojektes bildeten in diesem Kontext die Themenfelder Friedenssicherung (2017), Migration (2018) und Mediation (2019). Studierenden durch Lehrkooperationen in diesen Feldern Zugang zu internationaler Forschung und Expertise zu ermöglichen, Lernwege genauso wie Perspektiven zu diversifizieren und die Studierenden in interkultureller Kommunikation sowie im Umgang mit digitalen Medien zu schulen, bilden dabei nur einen Teil der Ziele des Projektes ab (vgl. https://www.stifterverband.org/digital-lehrfellows/2018/mucha). In der praktischen Umsetzung bedeutete dies in den vergangenen drei Jahren zunächst die Entwicklung, Testung, Revision und erneute Anpassung der technisch-digitalen und methodologisch-didaktischen Ausgestaltung des Projektes. Respektive lessons learnt wurden bereits auf Tagungen wie der International Migration Conference in Johannesburg mit internationalem Forum diskutiert.
Im Verlauf dieses Prozesses haben sich zwei Ansätze als Kernelemente des Seminars herauskristallisiert: Zum einen werden die Studierenden durch die Bereitstellung von Literatur sowie ergänzender Inputs internationaler Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Individuen nicht nur in den jüngsten Stand der Forschung eingeführt. Weil der Pluralismus und die Diversität der im Seminarkontext repräsentierten Perspektiven und Meinungen das zentrale Auswahlkriterium für respektive Sprecher*innen darstellt, werden den Studierenden darüber hinaus erste Kontaktpunkte mit einem breiten Spektrum theoretischer, epistemologischer, ontologischer, und methodologischer Zugänge ermöglicht. Hierzu zählt die vorbereitende Auseinandersetzung mit journalistischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten genauso wie Panel-Diskussionen, Planspiele, sowie Q&As in der Seminarsitzung. Zum anderen nehmen die Studierenden als Expert*innen ihrer eigenen Perspektiven und Hintergründe selbst eine aktive und zentrale Rolle im Prozess gemeinsamer Wissens(re-)produktion ein. Aus diesem Grund stehen Gruppenarbeitskonzepte (z.B. das an die standortübergreifende Seminarsituation angepasste Konzept der online-Vernissage), studentische Beiträge sowie die persönliche Interaktion von Studierenden und Lehrenden im Zentrum der Seminarkonzeption. Beispielsweise diskutierten Studierende und Lehrende beider Universitäten, verbunden über Videoübertragung, gemeinsam epistemologische und ontologische Konzepte menschlicher Mobilität und Grenzen auf Basis von fotografischen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Themengebiet sowie dem vorbereitenden Video-Beitrag eines südafrikanischen Forschers.
Auch wenn didaktische und methodische Seminarmodelle somit für die internationale, standortübergreifende Lehrkooperation auf ihre Qualität getestet sowie diskutiert wurden und auf dieser Basis Praxistipps für die Durchführung standortübergreifender Kooperation ausgesprochen werden können, bleibt Letztere auch zukünftig einem Überprüfungs-, Verbesserungsprozess und Ergänzungsprozess unterlegen. Dem Gedanken der stetigen Adaption, der Nachhaltigkeit und Kooperation verbunden ist in diesem Rahmen das Bestreben der Verfasser*innen, die entwickelten Konzepte im Sinne des Ansatzes einer Open Educational Resource (OER) fachöffentlich bereit zu stellen. Auf diese Weise sollen einerseits universitäts- und disziplinübergreifend Dozierende und Institute zur Durchführung vergleichbarer Lehrprojekte sowie zum Teilen und zur Diskussion ihrer eigenen Erfahrungen motiviert werden. Andererseits soll ein Diskurs über die Verbesserung politikwissenschaftlicher Lehre durch Internationalisierung und Digitalisierung angestoßen werden, wobei standortübergreifende Lehre als methodisches und didaktisches Mittel aus unserer Sicht eine zentrale Stellung einnehmen kann.
Die geplante OER-Plattform gliedert sich vor diesem Hintergrund in drei Bereiche:
- Das Kernstück der Plattform bildet die methodisch-didaktische Sektion: In diesem Bereich können – angepasst an den Kooperationsgrad des jeweiligen Projektes – Anleitungen (Wikis) zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung standortübergreifender Kooperation zur Verfügung gestellt und/ oder diskutiert werden.
Fragen, die in dieser Sektion gestellt werden, lauten etwa: Welche Art der standortübergreifenden Kooperation eignet sich, um ein spezifisches Seminar zu unterstützen? Welche bereits erprobten Seminar- bzw. Sitzungskonzeptionen können zu diesem Zweck herangezogen werden? Welche konkreten didaktischen bzw. methodischen Mittel wurden zu diesem Zweck bereits angepasst (z.B. Planspiel: Model United Nations, MUN) oder neu entwickelt (z.B. online-Vernissage)? Wie kann ich diese in mein Seminar einbinden? Wie setzte ich entsprechende Konzepte in der konkreten Seminarsituation ein? - Ergänzt werden diese Überlegungen durch eine auf inhaltliche Kooperation ausgerichtete Sektion (Blog), in der Lehrende Materialien austauschen und diskutieren können: In diesem Bereich können somit bereits im Rahmen standortübergreifender Seminarkooperation erstellte und/ oder erprobte Materialien anderen Standorten zur Verfügung gestellt und/ oder diskutiert werden.
Fragen, die in dieser Sektion gestellt werden, lauten etwa: Gibt es bereits Materialien, die ich in mein Seminar einbinden kann (z.B. Kurz-Video zum dekolonialen Frieden von Experten der Universität Pretoria; Planspiel zum Thema Migrationspakt; online-Vernissage zu den Begriffen Staat, Grenze und Migration aus postkolonialer Perspektive von Studierenden der Universität Düsseldorf und Pretoria)? Kann ich die von mir bzw. in meinem Seminarkontext erstellten Materialien anderen Standorten zur Verfügung stellen? - Vor allem an letzteren Punkt schließt abschließend die OER als Diskussions- und Netzwerkplattform (Forum) an: In diesem Bereich können Fragen rund um die Planung, Organisation und Durchführung standortübergreifender Seminarkooperation geklärt, Erfahrungen weitergegeben und Kooperationsideen entwickelt werden. Ebenso können der generelle Mehrwert und die Potentiale standortübergreifender Kooperation – allgemein oder kontextualisiert – debattiert werden.
Fragen, die in dieser Sektion gestellt werden, lauten etwa: Wie finde ich geeignete Kooperationspartner*innen? Gibt es eventuell bestehende Projekte, an denen ich mich beteiligen kann bzw. Universitäten/ Dozierende, die Interesse an einem entsprechenden Austausch hätten? Wie bewerten andere die von mir erstellten Materialien, wer gibt mir konstruktive Kritik? Wer hat Erfahrungen, in welchem Lehrkontext standortübergreifende Zusammenarbeit bzw. welches methodische oder didaktische Mittel geeignet ist?
Wie aus der Gliederung der OER-Plattform hervorgeht, gilt es keineswegs, bestehende Modelle der standortübergreifenden Lehrkooperation lediglich zu transportieren, sondern diese kritisch zu diskutieren und zu reflektieren, lessons learned anderer Standorte und Disziplinen einzubinden und Kontaktpunkte für potentielle Kooperationspartner*innen zu bieten. Auf diese Weise soll ein perspektivischer Beitrag zur Weiterentwicklung der politikwissenschaftlichen Lehre (und darüber hinaus) an der Schnittstelle Digitalisierung und Internationalisierung geleistet werden, indem der „echte“ Austausch mit Menschen und deren Perspektiven im internationalen Kontext gefördert und letztlich zur Institutionalisierung damit einhergehender Kooperationsprozesse beigetragen wird. Studierende und Lehrende, die an weiterführenden Informationen, dem gemeinsamen Austausch und/oder perspektivischen Kooperations- sowie Beteiligungsformaten interessiert sind, sind aus diesem Grund herzlich dazu eingeladen, Kontakt mit den Autor*innen aufzunehmen.