Dies ist ein Beitrag von Matthias Freise (Universität Münster).
Dieses Blogbeitrag basiert auf meinem gleichnamigen Vortrag im Rahmen der Workshop-Reihe „Hochschullehre in Zeiten von Corona“ des AK Hochschullehre vom 15. April 2020.
Wie alle Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Politikwissenschaft eine Lesedisziplin. Wer sich das Fach und seine Inhalte erschließen möchte, kommt um umfangreiche Lektürearbeit nicht herum. Das gilt nicht erst seit Einsetzen der Corona-Krise. Mit dem abrupten Ende der Präsenzlehre und der Umstellung auf Online-Formate hat der Anteil des Lektürestudiums aber vielerorts noch zugenommen. Lehrende entdeckten die Buchscanner und Lieferdienste ihrer Bibliotheken für sich und erstellten umfangreiche PDF-Reader ‒ vor dem geistigen Auge ihre Studierenden, die die Pandemie wie Spitzwegs Bücherwurm verbringen. In der Realität dürften viele Lernende durch erweiterte Leselisten allerdings eher abgeschreckt worden sein. Beispielhaft zeigt dies eine unveröffentlichte Studierendenbefragung der Universität Münster aus dem Corona-Semester, bei der sich fächerübergreifend eine Mehrheit der Studierenden über die deutlich ausgeweiteten Lektüreanforderungen beklagten und sie für nicht bewältigbar hielten. Es empfiehlt sich deshalb ein Blick in den Instrumentenkasten der hochschuldidaktischen Lehr- und Lernforschung, die einige Verfahren entwickelt hat, mit denen sich die Lesecompliance von Studierenden steigern lässt.
In meinem Artikel im Sammelband stelle ich fünf solcher Instrumente vor, die ich in meinen Seminaren an der Universität Münster während des Corona-Semesters erfolgreich getestet habe. Für diesen Blogbeitrag möchte ich beispielhaft des Instrument der Textpatenschaften vorstellen.
Im Mittelpunkt vieler politikwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen stehen Institutionen oder politische Organisationen wie Parlamente, Regierungen, Parteien, NGOs oder soziale Bewegungen. In solchen Seminaren können Sie zu Beginn des Semesters Textpatenschaften vergeben. In meinem Kurs „Zivilgesellschaft in Deutschland“ habe ich im Corona-Semester beispielsweise allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgewählte Vereine, Stiftungen, Wohlfahrtsverbände, Interessenverbände, Genossenschaften und gemeinnützige Kapitalgesellschaften zugewiesen und die Studierenden gebeten, die gesamte Seminarliteratur stets dahingehend zu lesen, inwieweit sich die getroffenen Aussagen auf die eigene Patenorganisation anwenden lassen oder ob sie ein eher schlechtes Beispiel zur Illustration des Textes sind.
Ich habe die Studierenden außerdem gebeten, in Fällen, in denen ihre Patenorganisation besonders gut geeignet ist, diese im Videoseminar kurz vorzustellen und auf den Text zu beziehen. In Kursen bis zu 30 Studierenden habe ich in der Videokonferenz einen Ausdruck der Organisationspatenschaften vor mir liegen und bitte die Studierenden, sich zur Seminarlektüre zu äußern, indem ich sie direkt mit Namen anspreche. Auf diese Weise gelingt es mir, auch Studierende zu aktivieren, die sich sonst nicht am Seminar beteiligen und die man im Webinar teilweise noch schwerer aktivieren kann als im Präsenzseminar. Da alle wissen, dass sie im Laufe des Semesters mehrfach aufgerufen werden, steigert das die Lesedisziplin erheblich. Als Lehrperson muss ich mich allerdings darauf vorbereiten, dass einige Studierende im Webinar fehlen und in diesen Fällen improvisieren, indem ich andere aufrufe.
Textpatenschaften eignen sich auch gut für Breakout Sessions, bei denen die Studierenden thematisch nach ihren Patenorganisationen in Kleingruppen eingeteilt werden und dort eine Aufgabe bearbeiten. In oben genanntem Seminar habe ich die Studierenden beispielsweise gebeten, in Breakoutsessions zu eruieren, inwieweit ihre Organisationen die verschiedenen Funktionen bedienen, die die liberale Demokratietheorie der Zivilgesellschaft zuweist.
Übrigens können Sie den Studierenden auch anbieten, Textpatenschaften aus ihrer eigenen Lebenswelt zu übernehmen. Sind Studierende selbst Mitglied in einer Partei, Gewerkschaft oder NGO, können sie im Seminar plastisch von ihren eigenen Erfahrungen berichten.
Dieser Artikel ist Teil der Blogserie „Bausteine digitaler Hochschullehre in der Politikwissenschaft“.
Eine Antwort auf „Politikwissenschaftliche Leseübungen in der Online-Lehre“
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