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SoWis, invertiert!

Schaue ich mir meine Quellen zum Inverted Classrom an, dann fällt mir auf, dass die meisten Anwender_innen aus den MINT-Fächern und den Wirtschaftswissenschaften kommen. Sozial- und Geisteswissenschaftler wie der Sprachwissenschaftler Jürgen Handke oder die Historikerin Jen Ebbeler sind in der Minderzahl (auch wenn Handke in Deutschland einer der großen Vorreiter dieser Methode ist).

Oberflächlich betrachtet könnte diese Beobachtung das Resultat eines Sampling Bias sein, da ich die meisten Quellen im Schneeballverfahren gefunden habe, indem ich Literaturverweisen, Links oder Tweets nachgegangen bin, die natürlich vorwiegend innerhalb disziplinärer Netzwerke stattfinden. Allerdings zeigt selbst eine Google-Suche mit entsprechenden Begriffen nur wenige Treffer für die Sozial- und Geisteswissenschaften.

Woran liegt das? Dazu habe ich drei Hypothesen.

Das Pfadabhängigkeitshypothese: Der Inverted Classroom wurde erstmals in den Wirtschaftswissenschaften unter diesem Begriff beschrieben (von Lage et al. 2000). Seither hat er sich von dort in die MINT-Fächer ausgebreitet und ist dort mit dem Peer Instruction-Ansatz verschmolzen, den Mazur in den 1990er Jahren für die Physik entwickelt hatte. Aufgrund der disziplinären Silobildung in der Wissenschaft fehlt es Sozial- und Geisteswissenschaftlern an Zugang zu dieser Methodik.

Die funktionalistische Hypothese: MINT-Fächer und auch die von einem mathematisch geprägten Mainstream dominierten Wirtschaftswissenschaften haben eine Epistemologie, in der Aussagen klar als richtig oder falsch eingeordnet werden können. Mir ist klar, dass ich damit sehr viel über den wissenschaftstheoretischen Status von „Wahrheit“, Intersubjektivität und die Rolle von Paradigmen unterschlage, aber in der (Lehr-)Praxis geht es in der Regel darum, den Studierenden die „richtigen“ Kenntnisse und Verfahren zu vermitteln. Der Inverted Classroom in den MINT-Fächern kann daher auf Multiple Choice-Fragen zurückgreifen, z.B. in der Vorbereitungsphase oder im Rahmen von Abstimmungen in der Präsenzphase. Die meisten Sozial- und Geisteswissenschaften haben dagegen eine pluralistischere Vorstellung von Wahrheit. (Auch hier unterschlage ich so einiges, z.B. große Teile der Psychologie sowie bestimmte, insb. quantitative Traditionen in der Soziologie und Politikwissenschaft.) Daher werden Multiple Choice-Tests in diesen Fächern zumeist eher kritisch angesehen. Die Entwicklung alternativer Assessment- und Feedbackinstrumente ist aufwändig und gerade für größere Studierendengruppen sehr anspruchsvoll.

Die disziplinhistorische Hypothese: In den Sozial- und Geisteswissenschaften gibt es das klassische Seminarmodell, das dem Inverted Classroom ohnehin schon recht ähnlich scheint: eine eigenständige Vorbereitung durch Lektüre zuhause (allerdings zumeist ohne Übungsfragen und Anleitung durch Dozent_innen), dann in der Präsenzphase Vertiefung durch Diskussion, sokratische Dialoge etc. Daher sehen viele Sozial- und Geisteswissenschaftler_innen nicht unmittelbar ein, warum der Inverted Classroom eine interessante Innovation für ihre Lehrpraxis sein könnte, weil sie der Ansicht sind, dass sie ihn ohnehin schon immer eingesetzt haben, ohne den Fachbegriff dafür zu kennen. Die Seminarpraxis ist oft aber ein gutes Stück vom Inverted Classroom entfernt, besonders wenn die Sitzungen durch studentische Präsentationen dominiert werden. Außerdem fehlen üblicherweise Anreize zur Vorbereitung und ein individuelles Feedback auf den Lernerfolg.

Welche Gründe es auch immer sein mögen, es gibt keinen inhärenten Grund, warum der Inverted Classroom nicht auf die Sozial- und Geisteswissenschaften übertragbar sein sollte, wie nicht zuletzt Handke und Ebbeler schon gezeigt haben. Man kann den Inverted Classroom auch sehr gut ohne Multiple Choice-Fragen organisieren, oder Multiple Choice-Fragen mit anderen Aufgaben kombinieren, die anspruchsvollere Lernziele überprüfen.

Das geht auch in größeren Gruppen, z.B. indem man über ein elektronisches Abstimmungssystem Freitextaufgaben stellt und die Antworten als Tagcloud darstellt und auswertet. Oder indem Einschätzungsaufgaben gestellt werden (z.B. „Welche Theorie der internationalen Beziehungen erklärt das Verhalten Russlands in der Snowden-Affäre am besten?“) und dann Vertreter_innen der verschiedenen Antworten gebeten werden, ihre Entscheidung zu begründen. Gruppenarbeiten oder spieltheoretische Simulationen können ebenfalls im Kontext größerer Gruppen eingesetzt werden.

Was bleibt? Es gibt für uns SoWis keine Entschuldigung, es nicht mal mit dem Inverted Classroom zu versuchen. Und genau das haben wir vor. Mal sehen, ob es sich für uns bewährt.

Was ist der Inverted Classroom?

Über den Inverted Classroom hatte ich voriges Jahr schon einmal was für den Blog unseres Prorektors für Studium und Lehre geschrieben, das ich der Erläuterung halber nochmal reposte:

Die Vorlesung ist ein traditionsreiches Lehrformat, für die es in Zeiten der Massenuniversität wichtige kapazitäre Gründe gibt. Aber lernen die ZuhörerInnen in solchen Vorlesungen auch das, was die DozentInnen bezwecken? Die Lehr-Lernforschung ist hier skeptisch. Für bestimmte Zwecke ist eine Vorlesung ein gutes Format, z.B. um die Lektüre zu ergänzen und Problemlösungpfade exemplarisch zu demonstrieren. Anspruchsvollere Lernziele sind damit jedoch nicht zu erreichen.

Beim Inverted Classroom wird – wie es der Name andeutet – die übliche Struktur der Vorlesung umgedreht. Klassisch bereiten sich die Studierenden eigenständig über die Lektüre von einführenden Texten auf die Sitzung vor, wo der Lehrvortrag die Lektüre ergänzt und vertieft. Im Inverted Classroom erfolgt das passive Lernen dagegen außerhalb des Vorlesungssaals, indem Studierende kurze Videovorlesungen ansehen, die durch ergänzendes Material und Übungsfragen begleitet werden. In der Präsenzsitzung setzen sich die Studierenden dann eigenständig mit dem Thema auseinander und werden dabei von der Lehrperson unterstützt.

Der Inverted Classroom wird bislang vorrangig in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften eingesetzt. Eine Vielzahl von Studien hat seine höhere Wirksamkeit im Vergleich zum klassischen Lehrvortrag bewiesen, sowohl bei kleinen Studierendengruppen als auch in Massenveranstaltungen. Erstens wird das klassische „Aufmerksamkeitsproblem“ der Vorlesung gelöst – die Studierenden werden von ZuhörerInnen zu TeilnehmerInnen des Kurses. Zweitens werden die Studierenden durch die Bearbeitung von Übungs- und Testfragen zur Abstraktion und zum Transfer des erworbenen Wissens aufgefordert und erhalten auf diese Aufgaben ein unmittelbares Feedback. Drittens bleibt angewandtes Wissen länger und besser haften als lediglich passiv rezipiertes Wissen. Angesichts dieser Vorzüge überrascht es nicht, dass Studierende in Evaluationen den Inverted Classroom dem klassischen Vorlesungsformat vorziehen und mehr Zeit für die Vorbereitung auf eine Präsenzsitzung verwenden als TeilnehmerInnen einer normalen Vorlesung.

Das Format soll erstmals im Wintersemester 2014/15 in der Vorlesung „Internationale Beziehungen und Global Governance“ zum Einsatz kommen. Dabei bestehen die Präsenzphasen aus zwei Abschnitten: Im ersten Teil werden diejenigen Aspekte aus dem Vorbereitungsmaterial wiederholt, bei deren Bearbeitung die Studierenden die meisten Schwierigkeiten hatten. Der zweite, längere Abschnitt dient der Anwendung der erworbenen Kenntnisse auf konkrete Fallbeispiele. Die Fallbeispiele werden durch kurze Lehrvorträge und zusätzliche Primär- (z.B. UNO-Resolutionen, biografische Berichte von Beteiligten) oder Sekundärquellen (z.B. Medienberichte) ergänzt. Danach werden in Gruppen von 3-4 Personen Fragen beantwortet, die Transferkompetenz (z.B. „Verhielt sich Michael Gorbatschow bei den Abrüstungsverhandlungen von Rejkjavik gemäß einer liberalen Interpretation internationaler Politik?“) und Kritikfähigkeit testen (z.B. „Welche Dynamik des Kalten Krieges kann keine Theorie der Internationalen Beziehungen zufriedenstellend erklären?“), aber auch die Entwicklung eigener Positionen („Bewerten Sie die Relevanz der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert angesichts der Multipolarisierung der Welt!“) erfordern. Antworten werden über ein elektronisches Abstimmungssystem gesammelt oder durch SprecherInnen der einzelnen Arbeitsgruppen im Plenum vorgestellt.

Auf diese Weise sollen die TeilnehmerInnen diejenigen Kompetenzen entwickeln, die vollwertige SozialwissenschaftlerInnen benötigen: die Synthese unterschiedlicher Materialien, der Transfer von Kenntnissen in neue Kontexte, die Fähigkeit zur Kritik theoretischer Positionen sowie die Entwicklung und Begründung eigener Standpunkte. All dies sind Lernziele, die im klassischen Vorlesungsformat nur dann erreicht werden, wenn Studierende dies auf eigene Faust außerhalb der Sitzungen einüben. Ohne Anleitung fehlt ihnen jedoch oft die Orientierung und die Motivation. Daher ändert sich im Inverted Classroom auch die Rolle des oder der Lehrenden. Statt dem „Weisen auf der Bühne“ ist er oder sie in diesem Modell InitiatorIn und BegleiterIn der individuellen Sinngebungs- und Lernprozesse der Studierenden.

Beim ersten Einsatz im Wintersemester 2014/15 wird die Wirkung der didaktischen Neukonzeption in mehreren Schritten evaluiert. Wenn sich das Modell bewährt, sollen die daraus gewonnen Erfahrungen auch anderen Lehrenden hochschulintern zur Verfügung gestellt werden.

Der Inverted Classroom in der politikwissenschaftlichen Vorlesung

Willkommen zu unserem Blog! Wir – das sind Daniel Lambach, Caroline Kärger und Tobias Rammel vom Institut für Politikwissenschaft der UDE – arbeiten an einem ambitionierten Projekt: eine Vorlesung komplett nach dem Modell des Inverted Classrom abzuhalten.

Der Blog begleitet dieses Vorhaben im Wintersemester 2014/15. Er soll eine Art fortlaufender Werkstattbericht sein und den Alltag des Inverted Classroom aus Sicht der Lehrenden dokumentieren. Damit möchten wir es anderen Dozent_innen erleichtern, die Umsetzbarkeit dieser Methode für ihre eigene Lehrpraxis einzuschätzen. Solche Berichte sind gerade in den Sozialwissenschaften noch sehr selten, während es für andere Fächer wie Mathematik oder Physik sehr viel mehr Ressourcen gibt.

Man kann aus der Tatsache, dass wir das zu dritt machen, schon erahnen, dass die Vorbereitung nicht unaufwändig ist. Das betonen alle Erfahrungsberichte, insofern hat es uns nicht überrascht. Es hat aber eines Fellowships für innovative Hochschullehre des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft bedurft, damit wir genügend Ressourcen hatten, uns an dieses Unterfangen zu wagen.

In den nächsten Monaten werden wir unregelmäßig, aber häufig über unseren Fortschritt berichten. Kommentare oder Fragen per Email (daniel PUNKT lambach ÄT uni-due.de) werden gerne entgegen genommen. Man kann die neuen Einträge bequem per RSS abonnieren (siehe die rechte Spalte). Wer das nicht mag, sei auf das Firefox-Add-On „Update Scanner“ verwiesen, der dafür ebenfalls sehr geeignet ist. Viel Spaß beim Lesen!