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Schreiblust oder Schreibfrust? Erfahrungen aus der Schreibwerkstatt im Aachener Masterstudiengang Politikwissenschaft

„Eine Schreibwerkstatt im ersten Mastersemester? Aber wir können doch schon Hausarbeiten schreiben!“ So klingt oft die erste Reaktion beim Start in den Aachener Masterstudiengang. Doch was die Studierenden in der Schreib- und Vortragswerkstatt erwartet, entpuppt sich oft schnell als Herausforderung: Ein Essay soll geschrieben, kommentiert und im Vortragsformat in der Gruppe präsentiert werden. Am 10. März mussten die Essays eingereicht werden. Nach einer ersten Sichtung der Ergebnisse haben sich die Lehrenden des Wintersemesters 2016/17 – Maike Weißpflug, Jürgen Förster und Kai Koddenbrock – zusammengesetzt und über ihre Erfahrungen und Erlebnisse beim Lehren der Schreib- und Vortragskunst unterhalten.

Maike Weißpflug (MW): Wir haben ja in diesem Studienjahr den ziemlich gewagten Versuch unternommen, die Studierenden völlig frei und ohne thematische Vorgaben einen Essay schreiben zu lassen. Mir ist dabei noch einmal aufgefallen, wie sehr sich das Lehren des Schreibens als Fähigkeit von einem inhaltlichen Seminar unterscheidet, wo man sich immer auch am Gegenstand, am Wissen festhalten kann. So eine Schreibwerkstatt ist im Gegensatz dazu oft eine sehr persönliche Veranstaltung, in der sich Studierende und Lehrende nicht hinter Sachfragen und anderen Autoren verstecken können.

Jürgen Förster (JF): Die Studierenden tun sich sehr schwer mit dem Format „Essay“ – sie wissen nicht, was das sein soll. Der Essay ist ja ein Versuch, das eigene Wissen nochmals zu problematisieren. Es gibt da ein gewisses Unwohlsein bei dem Gefühl, sich auf ein Problem wirklich einzulassen, auf den Denkprozess, der vielleicht nicht immer ein festes Resultat hat. Es geht im Essay nicht um das Wissen und die Information, sondern um die Reflexion auf Wissen und Information; es geht nicht um das Erklären, sondern um das Verstehen. Die Studierenden haben das Gefühl, dass wir von Ihnen etwas gleichsam Verbotenes erwarten, wenn wir sie dazu verleiten, die strengen Regeln der Wissenschaft zu verlassen. Das wird auch als Rückschritt empfunden, als Zumutung. Ich hatte in der Übung nicht das Gefühl, dass die Studierenden darüber nachdenken, wie sie schreiben wollen, sondern eher über das Thema nachdenken. Dabei geht es im Essay vor allem darum, Form und Inhalt zu verbinden.

MW: Ja, das Gefühl hatte ich auch. Die Aufgabe, einen Essay zu schreiben und dabei auch sehr stark mit der Sprache zu arbeiten, ist ungewohnt und für viele etwas ganz Neues. Es geht darum, selbständig über eine Frage, ein Problem – im Idealfall eines, das man bereits gut kennt und wissenschaftlich bearbeitet hat – zu reflektieren und sich dabei auch gerne ein wenig von den akademischen Konventionen zu lösen. Trotzdem sollen sie wissenschaftlich schreiben, d.h. klar und präzise in der Gedankenführung und im Ausdruck. Beides hängt ja enorm eng zusammen. Kai, du hast das Buch „Schreibdenken“ von Ulrike Scheuermann in die Übung eingebracht, das ja genau auf dieser Idee, dass Schreiben ein Denkinstrument sein kann, basiert.

Kai Koddenbrock (KK): Ja, wir hatten uns vor dem Semester überlegt, einen Bogen von Essaybeispielen wie dem großartigen kleinen Text von Montaigne zu einem ‚Mangel unserer öffentlichen Verwaltung‘ bis zu einem Text Wolfgang Streecks über den Euro bis zu Reflexionen über den ‚Essay als Form‘ von Theodor Adorno zu spannen. Mit diesem praktischen Büchlein zum ‚Schreibdenken‘, so die Ausgangsüberlegung, hätten wir sehr praktisch am Gegenstand den Anspruch des Essays einlösen können, kreisend, philosophisch reflektiert und auch persönlich verankert auf das gewählte Thema zuzugehen. Grundsätzlich waren die Studierenden recht zufrieden mit den kleinen Übungen. Eine von ihnen bestand daraus, fünf Minuten ohne Punkt und Komma Draufloszuschreiben und in einem zweiten Schritt diesen aufs Papier gebrachten Bewusstseinsstrom zu ordnen und dann zu klären, was das zentrale eigene Interesse zu sein scheint. Aber es wurde deutlich, dass das Schreibdenken eine immerwährende Herausforderung ist, an dem man kontinuierlich arbeiten sollte, wenn man wirklich Fortschritte machen möchte. Die Idee, in einem kurzen Seminar an den Schreibdenkfähigkeiten zu arbeiten, greift also zu kurz und eine zentrale Lektion für mich und meine zukünftige Lehre ist, dass erst eine Integration dieser Übetechniken in alle meine Seminare nachhaltige Erfolge zeitigen könnte. Auch und gerade weil die Studierenden die sehr enge Betreuung ihrer Schreibfortschritte, die wir im Seminar durchgeführt haben, als sehr produktiv empfanden.

MW: Produktiv fand ich vor allem die Arbeitsphase, in der die Studierenden gegenseitig ihre ersten Entwürfe lesen und kommentieren sollten – dabei wurde klar, dass es für einen guten Satz nicht den einen genialen Wurf benötigt, sondern häufiges Redigieren und kritische Leser. Einen fremden Text können wir ja viel leichter und besser beurteilen als unsere eigenen. Das kann man sich zunutze machen, wenn man über den eigenen Schatten springt und seinen Text schon in einem frühen Stadium anderen zu lesen gibt. Bei mir in der Gruppe kam die Frage auf: Brauchen wir das eigentlich? Warum soll ich lernen, Essays zu schreiben? Ich habe versucht, damit zu antworten, dass die Fähigkeit, sich gut und klar auszudrücken, Zugang zur Sprache und damit zum Denken zu haben, etwas Universelles ist. Etwas, das in all den Berufen, die man mit einem Masterabschluss Politikwissenschaft ergreifen kann, nützlich sein wird. Die Kürze und freie Form des Essays zwingt einen einfach, sich dem eigenen Schreiben zu stellen. Man lernt dabei mehr als in jeder Hausarbeit.

JF: Der Essay hat aber auch etwas Unpraktisches, er liefert keine Lösungen, die man anwenden könnte. Der Essay ist per se philosophisch. Das Ziel ist eigentlich die ästhetische Befriedigung, die Lust beim Schreiben und Denken, das Genießen der Kreativität. Das kann man aber nicht erzwingen.

KK: Man könnte sagen, der Essay ist eine zutiefst bürgerliche Textgattung. Zweckfrei im Ästhetischen zu schwelgen, ist auch eine Reminiszenz an die Universität jenseits von beruflichen Sorgen und ständigem Notendruck. In der Innerlichkeit des Essays kommt ein romantischer, individualistischer Zugang zur Bildung zum Vorschein.

MW: Ich finde es ja gut zu zeigen, dass es diese Dimension, diese Sphäre der Bildung und diesen Anspruch noch gibt. Die Universität sollte der Ort sein, an dem man zumindest die Möglichkeit haben sollte, sich auf diese Weise intellektuell zu betätigen – oder zumindest sehen kann, wohin man geistig gehen kann. Ich meine, wir haben zu Beginn des Semesters Montaigne gelesen; wie der schreiben kann, das kam schon gut an.

JF: Aber es ist auch eine Zumutung und Überforderung.

MW: Vielleicht. Eine bewusste Überforderung – oder vielleicht eher eine Herausforderung. Die muss aber auch angenommen werden, sonst bleibt es eine Zumutung. Rückblickend würde ich sagen, das hat bei mir in der Gruppe so halb geklappt. Es sind ein paar schöne Essays und Ideen entstanden, aber es war auch nicht immer einfach.

KK: Das sehe ich ähnlich. Die Themenwahl war mir ein bisschen zu nah an den aktuellen medialen Diskussionen vom Populismus zur EU bis zur deutschen Leitkultur. Andererseits zeichnet das ja Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler auch aus, sich für das politische Geschehen zu interessieren. Sich von der gewohnten Form des Abwägens von Positionen oder des Plädoyers für eine bestimmte politische Maßnahme zu befreien und wirklich philosophisch in die Tiefe zu gehen, war nicht ganz einfach. Auf 3-5 Seiten (in der Prüfungsordnung steht sogar, dass es nicht mehr als 7000 Zeichen sein dürfen, was nicht einmal drei Seiten entspricht) ist das natürlich auch nicht so einfach. Ob das außer Montaigne jemand kann, steht für mich in den Sternen.

JF: Wir erwarten ja eigentlich nur, dass jemand die Bereitschaft zeigt, sich darauf einzulassen. Dazu braucht man Mut. Es fängt ja schon beim ersten Satz an: Der Essay fällt mit der Tür ins Haus, man sollte gleich mittendrin im Thema sein. Ohne einen guten Satz läuft das nicht.

MW: Der Essay ist ja wörtlich zu nehmen, als Versuch, etwas für sich zu klären, etwas in Frage zu stellen, den Kopf zu wenden. Es ist auch ein Abstreifen von Autorität, eben selber nachvollziehen, worin ein bestimmtes Problem besteht.

JF: In diesem Sinne ist der Essay eine Übung im Geiste der Aufklärung. Sapere aude! Habe Mut! Am schwersten fällt es den Studierenden, dieses subjektive Element zu verstehen, das aber nicht ins Beliebige geht. Zwar entwickele ich im Essay einen Gedanken frei, aber es wird dadurch nicht zur bloßen Meinung, sondern versucht den Gegenstand des Denkens zu verstehen und ihm zum Ausdruck zu verhelfen. Darüber hinaus sind für den Essay Begründen und Argumentieren obligatorisch. Das ist das objektive Element.

KK: Das ist wirklich ausgesprochen schwierig. „Subjektiv-objektiv-analytisch-philosophisch zu schreiben“, die eierlegende Wollmilchsau unseres Metiers, ist eine große Herausforderung. Die meisten Essays in der von mir betreuten Gruppe tendierten zum Meinungsartikel. Da wir Streeck gelesen hatten, war das auch legitim. Montaigne hingegen besticht durch Interpretationsbedürftigkeit und wird so eher zum literarischen Text. Welche Form einem selbst am besten liegt, lässt sich nur weiter ausprobieren. Vielleicht ist auch ausreichend, dass man an der Uni nur das wissenschaftliche Schreiben lernt und für alles Weitere einen Kurs im ‚kreativen Schreiben‘ belegt. Da bin ich noch unentschlossen. Das Essay-Seminar war in jedem Fall ein produktives Experiment.

MW: Woher weiß man, was ein guter Satz ist, wie entwickele ich Sprachgefühl? Ich glaube, in einem Semester können wir höchstens einen Anstoß geben, sich mit dem eigenen Schreibstil zu beschäftigen. Einen Geheimtipp haben wir da noch: Lesen, und zwar bergeweise!

Literaturhinweise

Adorno, Theodor W. 1958. Der Essay als Form, in: Noten zur Literatur. Suhrkamp: Frankfurt: 9-49.

Becker, Howard S. 2000. Die Kunst des professionellen Schreibens: Ein Leitfaden für die Geistes- und Sozialwissenschaften, Campus Studium, 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Campus.

Montaigne. Über einen Mangel unserer öffentlichen Verwaltung, in: Essais, Erstes Buch, BTB, 346-348.

Scheuermann, Ulrike. 2016. Schreibdenken: Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln. 3., durchgesehene Auflage. UTB Schlüsselkompetenzen 3687. Opladen: Verlag Barbara Budrich.

Streeck, Wolfgang 2016. Wenn die EU untergeht, wird keiner weinen, in: Die Zeit vom 27.10.2016, http://www.zeit.de/2016/43/europaeische-union-brexit-italien-spaltung.

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