Gemeinsames Gedankenexperimentieren in der Hochschullehre

Dies ist ein Gastbeitrag von Dannica Fleuß (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg).

 

Wie kann man in der Hochschullehre der Politischen Theorie einen stärkeren Fokus auf systematische und anwendungsbezogene Problemstellungen erreichen? Und wie kann man sowohl das Interesse der Studierenden für scheinbar „abstrakte“ Fragestellungen und Konzepte wecken als auch Vermittlungsprobleme vermeiden? Diese Fragen habe ich mir in einem Vortrag auf der Jahrestagung der DVPW-Themengruppe Hochschullehre gestellt. Dabei habe ich eine Methode vorgestellt, die ich sowohl an der Universität Heidelberg als auch an der Helmut-Schmidt Universität in Hamburg häufig anwende: das „gemeinsame Gedankenexperimentieren“.

Das, was wir als Lehrende der Politischen Theorie erreichen möchten, ist neben einer eigenständigen Reflexion und Urteilsbildung über normative Fragen die Einordnung aktueller Phänomene in den Kontext „bisheriger“ Reflexion. Zudem sind Seminare im Bereich der Politischen Theorie — gerade dann, wenn es um kontroverse Debatten geht — ausgezeichnet geeignet, um Studierenden ein Gespür für eine gute Diskussionskultur, Ambiguitätstoleranz  sowie das Vermögen zur kontextsensiblen Bewertung von Situationen zu vermitteln. Trotzdem ist es — nicht nur, aber auch bedingt durch die Reform von Studiengängen und in Modulhandbüchern vorgegebene Stoffpläne — nicht immer leicht, diese Ziele in (Einführungs-)Seminaren zu erreichen: Auch Lehrende der Politischen Theorie müssen eine bestimmte Anzahl von „Klassikern“ in kurzer Zeit behandeln, so dass es nahe liegt, primär ideengeschichtlich fokussierte Überblicksveranstaltungen anzubieten, die in chronologischer Reihenfolge „klassische“ oder „kanonische“ Positionen sowie ihren historischen Kontext darstellen. Die von mir vorgeschlagene Methode versteht sich nicht als Alternative zu ideengeschichtlichen Veranstaltungen, sondern als ergänzendes „Modul“ innerhalb derartiger Formate, mit dem auf drei zentrale Probleme reagiert werden kann:

  1. Ein (anfängliches) Desinteresse am Fachbereich: Politische Theorie als Teildisziplin der Politikwissenschaft ist (z.B. im Vergleich zu Internationalen Beziehungen) in den meisten Fällen nicht der Gegenstandsbereich, der Anlass für ein Studium der Politikwissenschaft war, sodass ein Interesse am Fachbereich aktiv geweckt werden muss.
  2. Ein Relevanzproblem: Die Bedeutung einer systematischen, theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit normativen Fragen muss zunächst einmal kommuniziert werden. Studierende scheinen z.B. häufig den Eindruck zu haben, dass die in der Politischen Theorie geführte Diskussion normativer Fragen vom konkreten politischen Geschehen und unseren Problemlösungsstrategien weitgehend losgelöst ist.
  3. Ein Stilproblem auf sprachlicher Ebene: Komplizierte bzw. abstrakte Darstellungen sind in vielen Fällen ein Abschreckungsfaktor für die Auseinandersetzung mit dem Thema.

In ideengeschichtlich orientierten Überblicksveranstaltungen konstruktiv auf diese Probleme zu reagieren und einen konkreten Bezug zu aktuell relevanten Fragen und Problemlagen herzustellen, ist nicht immer leicht. Die Diskussion im Seminar droht eher um die „richtige“ Auslegung einer klassischen Position zu kreisen als um das systematisch-normative Problem sowie seine Implikationen für andere Anwendungsfelder der Politikwissenschaft oder tagesaktuelle Fragen. Ich plädiere daher für eine stärke problemorientierte Vermittlung und Diskussion von theoretischen Ansätzen. Eine Methode, die ich in Seminaren häufig und mit gutem Feedback anwende, ist das gemeinsame Gedankenexperimentieren.

Diese Bezeichnung ist klärungsbedürftig. Gemeint ist mit „gemeinsamem Gedankenexperimentieren“ nicht ein freies Assoziieren oder das Entwerfen von Utopien zu normativen Fragen. Vielmehr ist an dieser Stelle ein Verfahren gemeint, dass aus einem Dreischritt von (1) der Darstellung eines Szenarios, (2) der Formulierung einer auf Basis dieses Szenarios durch die Studierenden zu beantwortenden Frage und (3) natürlich der Durchführung des „Experiments“  besteht (vgl. dazu auch Engels 2004). Die grundsätzliche Offenheit des Experiments in Hinblick auf das inhaltliche Ergebnis und den Ablauf der Diskussion birgt ihre eigenen Herausforderungen für den Lehrenden. Trotz dieser Herausforderungen hat sich dieses Vorgehen in meiner Lehrpraxis als sinnvoll erwiesen und kann u.a. die folgenden Funktionen erfüllen:

  • Eine Reduktion des Abstraktionsniveaus bei der Vorstellung eines theoretischen Problems
  • Eine niederschwellige Diskussionskultur

Ein Praxisbeispiel, an dem diese beiden Funktionen von gedankenexperimentellen Verfahren in der Lehre deutlich werden, ist die Vermittlung des Problems der Legitimität staatlicher Herrschaft. Dies bedeutet, dass eine klassische Staats- bzw. Verfassungsgründungssituation mit den Studenten simuliert wird und sie aufgefordert werden, sich die Frage zu stellen, ob es in der vorab definierten kontrafaktischen Situation (ohne Staat) rational ist, sich für ein staatliches Gewaltmonopol zu entscheiden (und welche Eigenschaften dieses ggf. haben soll). Bei einer solchen Herangehensweise wird die komplexe Debatte über die Legitimität staatlicher Herrschaft wesentlich zugänglicher und der Einstieg in eine lebendige Seminardiskussion wird erleichtert.

Gerade in der Diskussion kontroverser politischer und moralischer Fragen werden zwei weitere Funktionen eines gemeinsamen Gedankenexperimentierens deutlich:

  • Die Ermöglichung von Rollen- und Perspektivenwechseln
  • Das Aufzeigen alternativer Antwortoptionen bzw. das Trainieren von Ambiguitätstoleranz

In der Diskussion normativer Fragen ist es erforderlich, dass auch „unbequeme“ oder gewohnten moralischen Intuitionen widersprechende Positionen eingenommen werden. Beispiele für solche Themen sind Diskussionen über Civil Disobedience, Güterabwägungen oder auch Debatten über fundamentale Grund- bzw. Menschenrechte. Gedankenexperimentelle Verfahren bieten hier die Möglichkeit, die Studierenden spielerisch Positionen einnehmen zu lassen, um damit die Argumente der „Gegenseite“ ausprobieren zu können. Um in solchen Situationen eine methodisch angeleitete Diskussion — und kein freies Assoziieren oder Spekulieren — auf Seiten der Studierenden zu erreichen, empfiehlt sich meiner Erfahrung gemäß eine Anleitung in den folgenden drei Schritten (s. auch Engels 2004):

  1. Die (möglichst präzise und anschauliche) Beschreibung des Szenarios durch den Lehrenden.
  2. Die Formulierung einer eindeutigen Fragestellung, die auf Grundlage des Szenarios beantwortet werden soll.
  3. Im Anschluss an die Ausführung des „Experiments“: Eine systematische Abwägung von verschiedenen Antwortoptionen und die theoretisch fundierte Einordnung der Antworten, die Darstellung von „Schwächen“ der vorgebrachten Positionen.

Diese drei Schritte möchte ich kurz anhand eines so klassischen wie komplexen, zugleich aber für das „kollaborative Gedankenexperimentieren“ auch sehr fruchtbaren Beispiels veranschaulichen: Des Verfahrens in der original position, mit dem Rawls seine zwei Gerechtigkeitsprinzipien begründen möchte.

Schritt (1): Für die Simulation der Aushandlung zentraler Gerechtigkeitsgrundsätze lässt sich das Szenario, in das sich die Studierenden begeben sollen, in einem ersten Schritt auf die Beantwortung zweier (scheinbar) simpler Fragen reduzieren: Über welche Informationen verfügen Sie als Protagonist in der original position? Über welche Informationen verfügen Sie nicht?

Schritt (2): Die Formulierung der Fragestellung würde in diesem Fall eine Definition dessen, worüber die Protagonisten des Rawlsschen Urzustandes entscheiden müssen, meinen. Diese Frage lässt sich präzisieren in: a) Für welche Gerechtigkeitsgrundsätze würden Sie sich in dieser Situation entscheiden? Wie würden Sie materielle und immaterielle Güter verteilen? b) Wie würden Sie sich Rawls’ eigenem Vorschlag gegenüber positionieren?

Schritt (3): Ganz im Sinne eines „Experimentes“ muss man sich bei einer solchen Vorgehensweise darauf einlassen, dass der Ausgang offen ist. Die Herausforderung besteht daher im dritten Schritt darin, die von den Studenten selbst vorgebrachten Positionen und Argumente systematisch „einzufangen“ und in den Kontext der theoretischen bzw. wissenschaftlichen Debatte einzuordnen.

Aus meiner Erfahrung sind die Positionen, die an dieser Stelle vorgebracht werden, zwar zumeist nicht in wissenschaftlichen Debatten verortet oder mit den entsprechenden Labels und Fachausdrücken bestückt. Sie sind dennoch häufig Positionen, die grundsätzlich auch in der wissenschaftlichen Diskussion relevant sind. Die Eigenständigkeit, mit der Studierende in einer solchen Situation nachdenken und verschiedene Positionen abwägen ist in vielen Fällen beeindruckend. Auf dieser Basis ist sodann eine durch Überlegungen der Studierenden selbst motivierte Diskussion zentraler Fragen möglich. Die Motivation, komplexe Probleme oder Begriffe zu diskutieren ist bei dieser Ausgangslage häufig wesentlich besser.

Eine Herausforderung für den Lehrenden besteht darin, ein adäquates Verhältnis von Kontextwissen und „eigenständigem“ Nachdenken herzustellen. Denn historisches bzw. ideengeschichtliches Kontextwissen ist selbstverständlich nicht nur laut Lehrplan zu vermitteln, sondern auch erforderlich für ein tieferes Verständnis der diskutierten Themen. Die Abstraktion vom historischem Kontext, in dem die diskutierten Probleme verortet sind, ist natürlich beim Gedankenexperimentieren selbst gewollt. Zugleich ist es erforderlich, im Anschluss an diesen Schritt eine Strukturierungsleistung zu erbringen, um die Antwortoptionen in ihrem historischen und politischen bzw. argumentativen Kontext einzubetten.

Eine Frage, die ich auch auf der Jahrestagung abschließend diskutiert habe, ist die nach der Übertragbarkeit der gedankenexperimentellen Methode auf andere Teilbereich der Politikwissenschaft: Auf den ersten Blick scheint das hier skizzierte Vorgehen nur eingeschränkt auf die Lehre in empirisch arbeitenden, weniger stark mit philosophischen Fragestellungen assoziierten Felder anwendbar zu sein. Diesem ersten Eindruck widerspricht der Befund, dass gedankenexperimentelle Szenarien auch in naturwissenschaftlichen Fächern (klassisch: der Physik) eine nicht unerhebliche Rolle spielen und bspw. der Analyse (möglicher) Kausalbeziehungen dienen. Wie auch in Anbetracht der Nähe der von mir besprochenen gedankenexperimentellen Methode zu Simulationsverfahren, ist ein „gemeinsames Gedankenexperimentieren“ in der Lehre nicht nur in der Diskussion normativer Fragestellungen gewinnbringend. Vielmehr dürfte sich das sowohl spielerische als auch theoretisch angeleitete Erproben von Szenarien unter dem Motto „Was wäre, wenn…“ mit einigen Modifikationen durchaus auch für empirisch arbeitende Lehrende eignen.

 

Ausgewählte Literatur:

Helmut Engels (2004): »Nehmen wir an …«: Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht. Weinheim: Beltz. (Instruktiv als Ausgangspunkt für die Anwendung gedankenexperimenteller Verfahren und in Hinblick auf verschiedene hier angesprochene Aspekte, auf Didaktik an Schulen bezogen)

Tobias Klauk (2008): „Gedankenexperimente – Eine Familie philosophischer Verfahren“, November. URL: https://ediss.uni-goettingen.de/handle/11858/00-1735-0000-0006-AFB4-C. (Philosophische Dissertation zu verschiedenen Arten von Gedankenexperimenten und ihren Funktionen)

John Rawls (2009): A Theory of Justice. Harvard University Press.

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